Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1134-1136

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wilde, Guillermo

Titel/Untertitel:

Religión y poder en las misiones de guaraníes.

Verlag:

Buenos Aires: Editorial SB 2009. 509 S. m. 17 Abb. gr.8° = Paradigma indicial, 7. Kart. Argentinische Pesos 80,00 [ca. EUR 16,00]. ISBN 978-987-1256-63-1.

Rezensent:

Fabian Fechner

Die umfangreiche Monographie Guillermo Wildes, Forscher im argentinischen Wissenschaftsrat CONICET (Consejo Nacional de Investigaciones Científicas) und Lehrstuhlinhaber an der Universidad Nacional de San Martín (Buenos Aires), ist eine religions- und ethnohistorische Untersuchung der Guaraníreduktionen in der Jesuitenprovinz Paraguay, die als »Jesuitenstaat« einen Platz in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung gefunden haben. Die Arbeit gliedert sich in loser chronologischer Reihenfolge in elf Episoden, die von dem ersten Kontakt zwischen Jesuiten und Guaranís Ende des 16. Jh.s über den sog. Traktats- oder Guaraníkrieg 1753–1756, die Vertreibung der Jesuiten aus Spanien und sämtlichen Kolonien 1767/1768 bis zur Einbindung in das Vizekönigreich Río de la Plata und die ersten Jahrzehnte der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jh.s reichen. In diesem zeitlichen Rahmen wird die Hauptthese vertreten, »dass die indigenen Anführer und ihr Gefolge die Basis der politischen Organisation in den Missionen und das Fundament ihrer Kontinuität und Dynamik waren« (23). Wichtigster Beleg dafür ist das in mehreren Kontexten herausgearbeitete »verborgene Regis­ter« der indigenen Bevölkerung (»registro oculto«, 243.257). Dieses Register als Set alternativer Handlungsoptionen der indigenen Be­völkerung sei daraus herzuleiten, dass etwa Ahnenkult und Polygamie die Evangelisierung durch die Jesuiten überdauert hätten und abseits der publizierten Chroniken Erwähnung finden. Gemeinsam mit den offiziellen Praktiken und den christlichen Dogmen sei so ein »doppeltes Register« entstanden. Damit wird eine alternative Interpretation zum Evangelisierungsparadigma geboten, das in den zeitgenössischen Chroniken der Jesuiten und der älteren Forschungsliteratur vorherrscht, wonach durch die Mission die indigene Bevölkerung streng in einen »gläubigen« und einen »ungläubigen« Teil geschieden und die Reduktionen als vollständig zivilisierte und kulturell homogene Bereiche geschaffen worden seien (21.123).
Besonders hervorzuheben ist, dass W. die – aufgrund der Einschreibung in unterschiedliche Nationalhistoriographien und die Methodenvielfalt – stark inhomogene Forschungsliteratur gründlich erschließt und anhand der Extrempositionen gliedert. Beispielsweise stellt er der bis ins frühe 20. Jh. vorherrschenden Forschungsmeinung, dass sich die Guaranís passiv der Missionierung durch die Jesuiten unterworfen hätten, die Annahmen von Pierre und Hélène Clastres, wonach sich die indigene Bevölkerung traditionsbewusst und autark jeglicher Änderung ihrer Lebensweise widersetzt hätte, gegenüber (29.87), um dann eine Mittelposition zu formulieren. Desgleichen werden als Eckpunkte der Expansionsforschung indigene Völker entweder als assimilierte, lokale Spielarten des europäischen Wirtschaftssystems oder als Träger einer expliziten Alterität gesehen (35). Auch im Falle der Gründe für den Guaraníkrieg hat dieses Vorgehen grundlegenden heuristischen Wert (158). Darüber hinaus wird zu jedem Thema ein beachtlicher Bestand an unpublizierten Quellen ausgewertet. Während sie für die Zeit vor der Vertreibung der Jesuiten in die dichte Forschungsliteratur eingearbeitet werden, ist deren Analyse für die Zeit nach 1768 forschungsbedingt eine Auswahl aussagekräftiger Fallstudien.
Gerade diese konsequente Auswertung von archivalischen Quellen macht den Wert des Werkes aus, das mit dem gewählten kulturgeschichtlichen Ansatz an der Schnittstelle von Soziologie, Religionswissenschaft, Geschichte und Ethnologie hinsichtlich der Betrachtung der Interaktion zwischen Guaranís und Jesuiten bzw. Kolonialbehörden eine empfindliche Lücke schließt, zumal vor allem die deutschsprachige Forschung oftmals ausschließlich auf gedruckten Quellen fußt. Die insbesondere von den Arbeiten Bartomeu Meliàs und Branislava Susniks inspirierte Interpretation, die in den Guaranís keine passiven Objekte, sondern aktive Akteure sieht, wird als Grundlage für die Argumentation des »verborgenen Regis­ters« genommen, womit sowohl die Persistenz präkolonialer Praktiken und Phänomene, etwa der Polygamie und des magischen Weltbilds, als auch die Flucht zahlreicher Guaranís aus den Reduktionen in spanische Dörfer, Franziskanermissionen oder abgelegene Regionen erklärt werden kann. Einschränkend bleibt lediglich anzumerken, dass die äußere Quellenkritik der verwendeten Drucke des 17. und 18. Jh.s zu summarisch ausfällt (400 f., Anm. 21).