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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1131-1134

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Pohlig, Matthias, Lotz-Heumann, Ute, Isaiasz, Vera, Schilling, Ruth, Bock, Heike, u. Stephan Ehrenpreis

Titel/Untertitel:

Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2008. 411 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte, 41. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-428-12943-0.

Rezensent:

Horst Dreier

Die seit Jahrzehnten virulente und disziplinär stark verzweigte Säkularisierungsdebatte ist mittlerweile so vielgestaltig geworden, dass der Überblick (oder gar der Durchblick) schwerfällt. Fest steht eigentlich nur, dass die lange Zeit dominante makrosoziologische These vom notwendigen Verschwinden der Religion kraft allgemeiner gesellschaftlicher Modernisierung im Kern erschüttert ist. Denn nicht zu leugnende Prozesse der Abwendung von den etablierten Großkirchen in Deutschland und Europa sagen über eine voranschreitende Säkularisierung im Sinne eines Relevanzverlus­tes von Religion noch nichts Endgültiges aus. Entkirchlichung bedeutet nicht zwingend Religionsschwund. Gerade die USA können nach wie vor als Beispiel für eine (insgesamt) hochmoderne Gesellschaft mit intensiv gelebter Religiosität gelten. Auch die gän gige These vom Staat als Produkt der Säkularisierung sieht sich zwingenden Einwänden ausgesetzt. Denn der frühneuzeitliche Staat etablierte sich nach den Bürgerkriegen des 16. und 17. Jh.s nicht sogleich als religiös und weltanschaulich neutrale Herrschaftsgewalt oberhalb der streitenden Parteien, sondern stabi­lisierte sich erfolgreich in Identifikation mit einer bestimmten Konfession. Das von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard ge­schmiedete Konfessionalisierungsparadigma betont daher zu Recht die konfessionelle Geschlossenheit als wesentliches Moment moderner Staatlichkeit in dessen frühneuzeitlicher Formierungsphase. Erfolgreich war seinerzeit nicht die Äquidistanz des Staates zu den Religionen, sondern die Allianz mit einer bestimmten Konfession. Entsprechende Prägungen wirkten gerade in Deutschland lange fort und konstituierten unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Milieus.
Das Buch bietet in dieser Debatte zunächst auf rund 100 Seiten eine hochinformative Rekapitulation der verschiedenen Diskussionsstränge und Theorieangebote, die sich um den facettenreichen Säkularisierungstopos ranken. Betrachtet werden vier Felder: die Religionssoziologie (zentrale Autoren: Max Weber, Ernst Troeltsch, Peter L. Berger, José V. Casanova; Stichworte: Entzauberung der Welt, Rationalisierung und Differenzierung der Gesellschaft, strukturelle Trennung von Religion und Politik), die Ge­schichtsphilosophie (Autoren: Carl Schmitt, Karl Löwith, Hans Blumenberg; Stichworte: Transformation ursprünglich christlich-religiöser Gehalte oder Begriffe in die weltliche Sphäre, Legitimität der Neuzeit, Strukturanalogien zwischen Christentum und Welt, Kirche und Staat, Theologie und Jurisprudenz), sodann Germanis­tik, Wissenschafts- und Kunstgeschichte (u. a. Albrecht Schöne, Lorraine Daston, Hans Belting mit Stichworten wie literarische Säkularisierung, Verweltlichung der Wissenschaft oder Idolatrie vs. autonomes Kunstwerk) und schließlich die Geschichtswissenschaft, bei der man sich angesichts der Vielzahl und Überfülle an Titeln, Thesen und Traktaten zu Humanismus, Renaissance und Reformation, zur komplizierten Verzahnung von Konfessionalisierung und Säkularisierung sowie von Religion und Aufklärung auf »Grundzüge« beschränkt (64–100). Diese verschiedenen Diskurse lassen sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen – höchs­tens auf den der denkbar allgemeinen Feststellung, Säkularisierung bezeichne eine Änderung der Rolle von Religion in Staat und Gesellschaft (vgl. 12). Aber ob Bedeutungsverlust oder Transformation vorliegt und was hier im Einzelnen Faktor, was Produkt ist, wird dann schon wieder kontrovers beurteilt. Säkularisierung er­scheint als amorpher Begriff, unter dem viele unterschiedliche Probleme und Prozesse verhandelt werden.
Ohne sich darin zu erschöpfen, hat diese »kurze Geschichte der Säkularisierungsthese« (21–109) auch den Zweck, die bislang übliche Verwendung des Säkularisierungstopos im Sinne eines makrohistorischen Prozessbegriffes zu demonstrieren, der sich für konkrete historische Forschung als nur bedingt anschlussfähig und operabel erweist. Zwar stellen die Autoren Wert und Nützlichkeit der Säkularisierungsthese keineswegs grundsätzlich in Frage, wollen aber die Ebene hochabstrakter Leitbegrifflichkeit zugunsten konkreter historischer Detailanalysen verlassen. Denn die bisherigen Konzepte seien gewissermaßen »zu grobmaschig« (15, vgl. auch 106), so dass sich mit ihnen über die »Akteure, Milieus oder Motive« (107) noch nichts hinlänglich Konkretes und aus den Quellen Belegbares aussagen lasse. Als historischer Prozess sei Säkularisierung bisher kaum untersucht worden, was die Autoren »als eindeutiges Manko der bisherigen Säkularisierungsforschung« (107) ausmachen. Wenn das sozusagen die (leicht übertriebene) Dia­- gnose ist, halten die Autoren auch sogleich ein Heilmittel bereit, nämlich den Verzicht auf makrohistorische Großthesen und stattdessen die Konzentration auf kleinräumige, sektorale und problemspezifische Themen und Untersuchungsfelder. »Von der Theo­rie zur Empirie« lautet die programmatische Überschrift zum umfangreichen Abschnitt C (110–371). Die forschungsstrategische Operationalisierung dieses Ansatzes erfolgt durch das Konzept der »Miniaturisierung«, worunter die Autoren im Kern zeitlich wie sachlich begrenzte, kontextualisierte und quellenbasierte Studien verstehen (vgl. 121 ff.).
Nach dem starken Plädoyer für konkrete historische Analyse statt großdimensionierter Gesamterklärung überrascht es den Leser etwas, wenn in einem den folgenden Miniaturisierungs­studien vorangestellten Abschnitt »Repräsentationen« als das er­kenntnisleitende Mittel präsentiert werden. Schon Repräsentation ist ein proteusartiger Terminus mit außerordentlich schillernder Wort- und Begriffsgeschichte. Wenn nun Repräsentationen um­schrieben werden als kollektive Deutungsmuster, mittels derer »Gesellschaften Modelle von sich und ihrer Umwelt entwerfen und diese kommunizieren« (111), so erfährt der Begriff dadurch eine unspezifische Entgrenzung, die seine postulierte Eignung, »für historische Miniaturen einen jeweils konsistenten Fragehorizont nach Säkularisierungsvorgängen zu konstituieren« (19), fraglich erscheinen lässt. Die Erklärung für den Rekurs auf einen solchen begrifflichen Tausendsassa, der angeblich »Modelle für vergangene, gegenwärtige und zukünftige (sic!) Wirklichkeiten« (111) bereitstellt und unter den sich »Weltbilder, Wahrnehmungen, Erfahrungen, aber auch Klassifizierungen, Ordnungsschemata und Symbolisierungen subsumieren« (112) lassen könnten, liegt freilich auf der Hand. Das Autorenteam verbindet die gemeinsame Arbeit in einem Projekt »Religiöse und säkulare Repräsentationen im frühneuzeitlichen Europa«, angesiedelt innerhalb des SFB 640 (»Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel«). Man fügt sich also dem vorgegebenen Rahmen ein. Entstanden ist dabei ein durchaus bemerkenswertes Buch von besonderem Format: keine Monographie aus einer Feder, aber auch nicht lediglich ein Sammelband heterogener Einzelbeiträge, sondern ein echtes Gemeinschaftswerk, wobei die jeweilige (Ko-)Autorenschaft für die einzelnen Ab­schnitte im Vorwort genau ausgewiesen wird.
Die sechs Miniaturen, mit denen nun das Postulat konkreter historischer Erforschung von Säkularisierungsvorgängen in der Frühen Neuzeit eingelöst werden soll und die man vielleicht auch einfach Detailstudien oder Fallbeispiele nennen könnte, bieten eine instruktive Blütenlese. Es geht um Konversionen im frühneuzeitlichen Zürich (Heike Bock), um den lutherischen Kirchenbau und seine Verortung zwischen Sakralort und Funktionsraum (Vera Isaiasz), um Schulbücher als Medien der Säkularisierung (Stefan Ehrenpreis) und Säkularisierungen der Vorstellung eines baldigen Weltenendes um 1700 (Matthias Pohlig). Den Anfang macht Ruth Schilling mit einer Abhandlung über die Sakralität der französischen Könige im 17. Jh. Sie untersucht zeremonialwissenschaftlich die Krönungs- und Weiheakte von Heinrich IV. sowie seinen Nachfolgern Ludwig XIII. und XIV. auf der Grundlage zeitgenössischer Darstellungen und Analysen auf ihre herrschaftslegitimierende Kraft sowie daraufhin, wie unterschiedlich sich jeweils die Verknüpfung religiöser und politischer Elemente gestaltete. Wurde etwa der Grund für die (angebliche) Fähigkeit der Könige, durch Berührung Skrofelkranke zu heilen, weniger in der Salbung mit Heiligen-Öl als in der persönlichen Frömmigkeit des Monarchen gesehen, machte man sie in nicht ungefährlicher Weise von kontingenten Veränderungen abhängig (151). Während sich Heinrich IV. schon wegen der in seiner Person gleichsam sichtbar werdenden konfessionellen Spaltung »in getreuer Befolgung des Krönungsordo« (156) auf die Tradition stützte und wie nach ihm Ludwig XIII. das überkommene Prozedere mit starker Rolle der katholischen Geistlichkeit höchstens in Nuancen variierte, wird mit Ludwig XIV. ein fundamentaler Wechsel sichtbar. Das Sacre ist jetzt »bar jeder Konstituierungsfunktion« und dient nur noch »zur Bestätigung und Sichtbarmachung bereits bestehender Herrschaftsverhältnisse«, was in dem Umstand plastisch greifbar wird, dass der Sonnenkönig der erste Monarch war, »der sich während der gesamten Zeremonie nicht erhob« (alles 153).
Geht es bei den französischen Königen um deren thaumaturgische Heilkraft durch Berührung der Kranken, so widmet sich in der vierten Miniatur Ute Lotz-Heumann in sehr instruktiver Weise der heilenden Kraft des Wassers (»Repräsentationen von Heilwassern und -quellen in der Frühen Neuzeit: Badeorte, lutherische Wunderquellen und katholische Wallfahrten«). Die Autorin unterscheidet drei Diskurse: den medizinisch-wissenschaftlichen (»balneologischen«), den lutherischen und den katholischen Heilwasserdis­kurs. Beim erstgenannten macht sie einen deutlichen »Trend zur Profanisierung der Heilwasser und -quellen« (290) aus und berichtet von zeitgenös­sischen Badeführern und Badeorten, in denen nicht von ungefähr »die gleichsam ›konfessionsneutrale‹ Stellung der Kurorte« (292) betont wird. Beim zweiten Diskurs mag es angesichts der Skepsis Luthers und anderer Reformatoren gegenüber einem Wunderglauben jedweder Art überraschen, dass »Wunderbrunnen ... in der lutherischen Frömmigkeitspraxis der Frühen Neuzeit einen festen Platz erlangten« (297), wobei als zeitlicher Schwerpunkt insofern die Mitte und die zweite Hälfte des 17. Jh.s angegeben wird (dass die Wunderbrunnen im Luthertum letztlich keine feste Institutionalisierung fanden, stellt Lotz-Heumann später S. 325 klar). Typisch erscheint die »interpretato­rische Gratwanderung« (298): So musste man einerseits gegen profanisierend-naturalistische Deutungen darauf insistieren, dass nicht das Wasser an sich heilende Kraft entfalte, sondern allein Gott kraft seiner Gnade die Wunder bewirke. Daher rührt die große Bedeutung von Gebet und Brunnenpredigt. Die göttliche Gnade der nicht auf bestimmte Krankheiten beschränkten Wunderbrunnen konnte aufgrund eines unerforschlichen Ratschlusses oder eines wenig gottgefälligen Verhaltens jederzeit revoziert werden (303). Andererseits grenzte man sich von der Heiligenverehrung ab, die das Verhältnis der Katholiken zu den »heilenden Wassern an Wallfahrtsorten« (305) ebenso prägte wie die Verstetigung und Dauerhaftigkeit der Wunderquellen. Tradition und feste Einbindung in einen Wallfahrtsort mit bestimmten etablierten Frömmigkeitspraktiken bildete das hervorstechende Merkmal auf katholischer Seite. Und in den unterschiedlichen Formen der Wunderheilungen (Stiftung einer Messe, Gelobung einer Wallfahrt, Votivtafeln hier, Gebet und Predigt dort) kontrastiert »katholische Werkgerechtigkeit mit der lutherischen sola gratia und sola fide-Lehre« (311). Kein Zufall also, dass »das Phänomen ›katholische Wallfahrtsquelle‹ im Gegensatz zu den lutherischen Wunderbrunnen« (330) bis in unsere Zeit Bestand hat.
Das Buch ist insgesamt ein echter Gewinn. Zwar könnte das Konzept der Miniaturisierungen zu einer Kleinteiligkeit ohne verallgemeinerungsfähigen Ertrag verleiten, doch sind die Abhandlungen dieser Gefahr durchweg entronnen. Ohnehin wird man auf Dauer beides brauchen: theoretische anspruchsvolle Erklärungsmodelle und historische Detailarbeit.
Bleibende Skepsis kann man gegenüber dem Repräsentationen-Modell hegen. Trägt es, ist es wirklich nötig? Auffällig ist die häufige, partiell inflationäre und nicht selten zwang- und krampfhaft wirkende Verwendung des Terminus, der sich durchweg durch Zuschreibung, Deutung, Interpretation, Bezeichnung, Darstellung, Ideologie, Symbol oder Ähnliches ersetzen ließe. Das eigentlich Gemeinte würde so an der einen oder anderen Stelle durchaus präziser und plastischer hervortreten. Hingegen muten Formulierungen wie »Repräsentationen von heilendem Wasser« (279) oder »Repräsentation heilender Quellen« (280) eher dunkel an – oder heiter. Denn was hat man sich etwa unter Flugschriften vorzustellen, »die dem frühneuzeitlichen Laien Repräsentationen von heilendem Wasser anboten« (285), oder der Aussage, wonach »Heilwasser ... als ›Medikament‹ repräsentiert« (286, auch 287) wird? Die Beispiele ließen sich vermehren. Man möchte den Autoren und Autorinnen zurufen: Habt Mut, Euch eigener Worte und Begriffe zu bedienen!