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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1130-1131

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kranich, Sebastian, Renger-Berka, Peggy, u. Klaus Tanner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonissen – Unternehmer – Pfarrer. Sozialer Protestantismus in Mitteldeutschland im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 211 S. gr.8° = Herbergen der Christenheit, Sonderbd. 16. Kart. EUR 24,80. ISBN 978-3-374-02686-9.

Rezensent:

Claudia Bendick

Der Sammelband entstand im Rahmen des von der DFG geförderten Teilprojekts »Sozialstaatliche Leitideen und Institutionalisierungskonzepte im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts« als Bestandteil des Sonderforschungsbereichs 537 »Institutionalität und Geschichtlichkeit« an der Technischen Universität Dresden. Mit ihrem geographischen Fokus widmen sich die Autorinnen und Autoren einem Forschungsfeld, das aufgrund der deutschen Geschichte noch nicht umfassend in den Blick genommen wurde.
Der Aufsatzband gliedert sich in drei Teile: 1. Diakonie und Innere Mission, 2. Industrie und Unternehmer, 3. Liberalismus und Sozialdemokratie. Dem zweiten und dritten Teil ist jeweils ein prägnanter historischer Abriss vorangestellt, der den Leser in die historischen und politischen Strömungen der Zeit einführt und so Redundanzen in den Einzeluntersuchungen vermeidet.
Das Thema Diakonie und Innere Mission beginnt mit dem Beitrag von Jochen Christoph Kaiser, der neben der historischen Einordnung das Augenmerk des Lesers auf die inhaltliche Abgrenzung zentraler Begrifflichkeiten lenkt. Dabei beschreibt er am Ende seines Beitrags thesenhaft, dass der Terminus »Innere Mission« im Hinblick auf den Begriff des »Sozialen Protestantismus« eine »pragmatische Brückenfunktion« einnimmt, während in der historischen Dimension »Diakonie« stärker »systematisch-praktisch-theologisch« ausgerichtet sei (33). – Formal und inhaltlich hätte der Beitrag Kaisers nicht nur als Einleitung des ersten Teils fungieren, sondern auch gut der Bezugspunkt des gesamten Bandes sein können.
Die nachfolgenden Beiträge von Peggy Renger-Berka und Chris­tel Butterweck behandeln die Gründungsgeschichte der Diakonissenmutterhäuser in Dresden und Halle. Beide Institutionen sind mit der Unterstützung Theodor Fliedners entstanden, wobei diese nicht konfliktfrei war. Die Hinweise der Autorinnen auf das Frömmigkeitsgefüge in den Regionen und die Entwicklung der Leitungsstrukturen sind für weiterführende Einzelstudien auch im Hinblick auf das Modell Theodor Fliedners überaus interessant.
Der zweite Teil widmet sich dem thematischen Kern des Sammelbandes, dem Einfluss des Protestantismus auf ausgewählte Zweige der Industrie und des Unternehmertums. Die einzelnen Studien untersuchen beispielhaft anhand von biographischen Zeugnissen, wie Unternehmer aufgrund ihrer protestantisch-sozialen Gesinnung strukturelle Veränderungen anstrebten. Inhaltlich standen hier die Absicherung von Arbeiterinnen und Arbeitern (z. B. im Krankheitsfall) und die Verbesserung ihrer Lebenssituation (z. B. Reduktion der Arbeitszeit) im Vordergrund. – Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Sebastian Kranich über Mathäus Ludwig Wucherer, Carl August Jacob und Johann Gottfried Boltze, der die persönliche religiöse Prägung der genannten Personen in einen Zusammenhang mit ihrem unternehmerischen Handeln stellt, wobei er die Wurzeln ihres Denkens im Vorfeld der Untersuchung berücksichtigt und damit ein hohes Maß an Reflexion erreicht (84).
Der dritte Teil führt mit der gut strukturierten Einführung von Karsten Rudolph in das Thema »Liberalismus und Sozialdemokratie« im Raum Thüringen und Sachsen ein. Dietmar Wiegand zeichnet in seinem Artikel eindrücklich nach, welchen Einfluss Naumanns Verständnis von »Demokratisierung« z. B. auf August César und Rudolf Herrmann hatte. Mit diesem Fokus auf die politische Entwicklung erhält das Thema »Strukturwandel« im Kontext des Protestantismus eine weiterführende Dimension, die über das 19. Jh. hinausweist: Bezog sich der Gestaltungsraum von Diakonissenmutterhäusern meist auf die eigene eine Einrichtung und ihr Einzugsgebiet, hatten die christlichen Unternehmer neben ihren Produktionsstätten häufig auch das regionale Umfeld im Blick; Vertreter wie Naumann und Johannes Herz brachten ihre Einstellung – direkt oder indirekt – in die Politik ein.
Dieser weite Bogen unterstreicht das Statement der Herausgeber, die den Band als Ende und neuen Anfang bezeichnen. Es ist den Autorinnen und Autoren in ihren durchweg wissenschaftlich fundierten und materialreichen Beiträgen eindrucksvoll gelungen, deutlich zu machen, dass eine umfassendere Auseinandersetzung mit den Themen in Einzeluntersuchungen vor dem Hintergrund bereits vorhandener Arbeiten zum Sozialen Protestantismus sehr lohnenswert wäre.