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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

142–144

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Glad, Clarence E.

Titel/Untertitel:

Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1995. XIV, 414 S. gr.8° = Suppl. to Novum Testamentum, 81. Pp. $ 117.25. ISBN 90-04-10067-9.

Rezensent:

Dieter Zeller

Das Buch ist aus einer Diss. unter Anleitung von St. K. Stowers (Brown University) erwachsen und belegt ein weiteres Mal die erhöhte Aufmerksamkeit, die Neutestamentler in den USA in den letzten Jahrzehnten dem antiken Umfeld schenken. Um es vorweg zu sagen: man sieht ihm das Wachstum auf dem Computer an mancherlei Wiederholungen, thematischen Sprüngen und unnötigen Abschnitten an. Ich versuche, den Gedankengang vereinfacht wiederzugeben.

G. möchte die paulinische "Seelenführung" (besonders in Röm 14 und 1Kor 8-10) mit der in epikureischen Schulen geübten vergleichen (eine Abhängigkeit will er nicht behaupten, wie er gleich S. 9 festhält). Zuvor stellt er in einem 1. Teil diesen ratenden, korrigierenden Umgang eines Reiferen mit anderen in den größeren Rahmen von Äußerungen antiker Philosophen und Redner, vor allem zum Thema "Freundschaft". In dieser Tradition wird der wahre Freund vom Schmeichler und vom Unterwürfigen abgegrenzt, unter anderem durch seine freimütige Kritik. Wie verhält sich dazu die Anpassungsfähigkeit, die Paulus 1Kor 9,19-23 an den Tag legt? Wie G. selber zugibt, gerät sie unter dieser Beleuchtung eher ins Zwielicht. Deshalb zieht er noch andere Kontexte als den der Freundschaft heran: politisches und rhetorisches Auftreten z.B. (unpassend m. E. das Klientelverhältnis, 30 ff.) Rücksicht auf die Rezipienten ist auch erfordert bei moralischer Unterweisung (Kap. 2). Die aus Lob und Tadel "gemischte Methode" geht je verschieden auf "Schwache" und Fortgeschrittene ein. Man ahnt die Relevanz für die Unterscheidung von "Starken" und "Schwachen" bei Paulus.

War diese "ubiquitous tradition" bisher aus allen möglichen Quellen erläutert worden, so wendet sich der 2. Teil den Epikureern zu, die wegen ihres Gemeinschaftslebens am ehesten mit Paulus und seinen Gemeinden zu vergleichen sind (vgl. schon 8 ff.). Dabei steht die Schule um Philodemos (Mitte des 1. Jh.s v. Chr.), die uns durch authentische Papyrusfunde aus Herculaneum bekannt ist, im Zentrum. Vgl. jetzt den übersichtlichen Beitrag vonG. über Philodemos in: John T. Fitzgerald (ed.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech (NT.S 82), Leiden-New York-Köln 1996, 21-59) Ausgangspunkt ist Philodems fragmentarisch erhaltene Schrift peri parresias, von G. mit On Frank Criticism wiedergegeben.

Da die bisher einzige griechische Ausgabe von A. Olivieri (1914) sogar auf deutschen Universitäten nicht leicht zu bekommen ist und keine Übersetzungen existieren, wäre man für eine englische Übersetzung im Anhang dankbar gewesen. In dieser Schrift geht es um die Praxis des heilsamen Zurechtweisens innerhalb der Kommunität. G. möchte beweisen, daß Philodemos gegen eine Richtung innerhalb der Schule anging, die ein hartes Vorgehen gegenüber "Unheilbaren" vertrat (116 ff.). Das fällt allerdings angesichts der Verbreitung diesbezüglicher To-poi und der Unbestimmtheit von "einige" (fr. 60,1 ff.) schwer. G. arbeitet vier Dimensionen der Zurechtweisung heraus und betont ihre Gegenseitigkeit, ihren zwar autoritativen, aber nicht unfehlbaren Charakter auf dem Hintergrund der von den Epikureern angeblich gepflegten Freundschaft mit möglichst vielen (dazu stimmt allerdings nicht fr. 187 Usener!).

Der 3. Teil steht unter dem Titel "Pauline Psychagogy". Die "leadership" des Apostels erkläre sich am besten im Licht der vorgeführten Tradition einer zugleich harten und freundlichen, zugleich korrigierenden und bestärkenden Seelenführung; er spiele die Rolle eines strengen Vaters, aber auch eines Freundes, je nach der Disposition seines Gegenübers. Wie bei den Epikureern werden auch Briefe zu diesem Zweck eingesetzt. Aber auch in den Gemeinden selber werde gegenseitige Zurechtweisung geübt und von Paulus gefördert, ganz ähnlich wie unter den Epikureern in Athen und Neapel 80 Jahre zuvor. Texte, die Erbauung, Ermunterung, brüderliche Ermahnung empfehlen, lassen sich leicht finden: z. B. 1Thess 5,14; Gal 6,1 f.; Röm 15,14. Merkwürdigerweise sieht G. aber nicht, daß solcher Umgang mit dem sich verfehlenden Bruder auch in der jüdisch-christlichen Weisheitstradition bedacht wird.

Die Q-Worte Mt 7,1-5; Lk 17,3b-4 werden nirgends zitiert (vgl. dazu meine Habilitationsschrift über "Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern", Würzburg 21983, 2. Teil §§ 3.16). Bei einem solchen Thema ergeben sich natürlich transkulturelle Parallelen. Wenn z. B. Philodemos den Ermahnenden daran erinnert, daß er selbst irren kann (132), ist Mt 7,3-5 zu vergleichen. Correctio fraterna ist jedenfalls schon immer in der christlichen Gemeinde zuhause gewesen und wird allmählich zum Disziplinarverfahren ausgebaut. Diese kontinuierliche Praxis liegt auch einem Paulus näher als die von Philosophenschulen.

Andere Texte, die G. heranzieht, sind weniger tauglich. So fragt sich, ob antilempseis, kuberneseis 1Kor 12,28 solche psychagogischen Funktionen meint, die potentiell jedes Gemeindemitglied übernehmen kann (192). S. 193 f. werden auch nicht-verbale "Tröstungen" (1Kor 16,18; 2Kor 7,6) für "mutual comfort and encouragement" ausgewertet. S. 198 f stellt aus dem 1Kor Belege mit dem Stamm krin- zusammen, die z. T. über "mutual correction" hinausgehen (in 1Kor 6,1-7 hat das Wort juridische Bedeutung) oder gar nichts damit zu tun haben (1Kor 11,29). Störender ist, daß G. seine Haupttexte, die Regelungen für den Konflikt zwischen Schwachen und Starken bzw. "Weisen" in Rom und Korinth, auf seine Thematik hin frisiert. Die Starken hätten die Schwachen zu bessern versucht, nicht bloß durch ihr Beispiel, sondern auch durch ihre rationale, allzu harte Argumentation (214 u. ö., 277 ff. "erziehen" wegen typtein 1Kor 8,12!). Das geht nur, wenn man Röm 15,14 noch hinzunimmt; sonst findet sich davon m. E. in den Texten keine Spur, besonders wenn man Röm 14,1b mit G. übersetzt "not for judgments about reasonings" (223).

Die Anwendungen der psychagogischen Tradition auf 1Kor 8 und Röm 14 f. zeitigt vor allem zwei Ergebnisse: 1. Die nicht-apokalyptische Deutung von "zugrunde richten" und "retten" (Röm 14,15; 1Kor 8,11; 9,22); 2. Bei den "Schwachen" bzw. "Starken" handelt es sich nicht um Gruppen, sondern um sittliche Dispositionen (vgl. zusammenfassend, 329 ff.; das versucht G., auch für die "Gesetzlosen" 1Kor 9,21 durchzuziehen: 256 f.).

Ad 1): Gerne würde man sozein besonders mit menschlichem Subjekt, einen therapeutischen Sinn wie bei den Moralisten unterlegen, wenn es nicht zu deutlich abgeflachter Missionsterminus wäre, der so auch außerhalb des behandelten Kontextes vorkommt (vgl. 1Kor 7,16; Röm 11,14), ebenso wie dainein das nun wirklicht nicht "personal profit" konnotiert (zu 251 f., wo Anm. 53 zu Recht auf 1Petr 3,1 verwiesen wird; Mt 18,15 wäre zu ergänzen). In der Zugehörigkeit zur Gemeinde geht es nun einmal um das eschatologische Heil; G. kann so auch den Gerichtskontext der Begriffe, gerade in Röm 14, nicht leugnen ("divine approval", 230. 289). Ad 2): Die Zeichnung von "Charaktertypen" schließt m. E. die Frage nach ihrer sozialen, ethnischen und religionsgeschichtlichen Konditionierung nicht aus.

Kap. 6 erläutert dann den Schlüsseltext 1Kor 9,19-23 und bestimmt richtig seine Funktion im Zusammenhang mit dem Essen von Götzenopferfleisch. Die moralische Deutung von "gottlos" und "schwach" bringt G. allerdings in Schwierigkeiten: Wie kann sich der Apostel sittlich herabstufen? Wie verhält sich das zu den rigorosen Maßnahmen gegenüber Sündern in Kap. 5 f.?

Schließlich verfolgt G. die Auseinandersetzung des Paulus mit den "recalcitrant Corinthians", vor allem der Gruppe der "Weisen" in 1Kor 1-4. Es ist klar, daß Paulus hier Maßstäbe der sittlichen Reife anlegt. Für G. spitzt sich das auf die Frage zu, "who can legitimately speak with parresia or francly criticize, evaluate, and admonish others?" (301). Der Gebrauch von Lob und Tadel im übrigen Brief charakterisiere ihn als "a friendly hortatory blaming letter" (244). Aber diese Mischung sei den Korinthern nicht gut bekommen, und deswegen drehe sich im 2. Korintherbrief die Debatte um übertriebene Härte sowohl des Apostels wie der Gemeindemehrheit (im Tränenbrief, im Fall des Beleidigers 2,5-11 usw.). Die inzwichen zugereisten Konkurrenz-apostel entschwinden dabei dem Blick G.s. Alles wird unter dem Gesichtspunkt der philosophischen Pädagogik und der Freundschaftsethik gesehen, wobei manches zutrifft, manches nicht. Gewisse Vokabeln, die auch in den philosophischen Texten vorkommen, verbürgen aber noch nicht dieselbe Thematik (z. B. 320 ff. zu anechesthai und katanarkan; obwohl bei letzterer die Bedeutung "finanziell zur Last fallen" auf der Hand liegt, will G. noch andere Konnotationen entdecken). Vor allem ist zu fragen, ob für die Autorität des Apostels als Stellvertreters Christi (vgl. 2Kor 10,1-6) die Kategorien eines Erziehers ausreichen, von denen der Freundschaft ganz zu schweigen.

Im ganzen wird man demnach dem Autor danken für die auch philologisch zuverlässige Erschließung hellenistischer Vergleichsquellen, ihm aber nicht in seinem Bemühen folgen können, sie um den Preis gewaltsamer Exegese für die Paulusbriefe auszuschlachten. Positiv zu vermerken ist die verständnisvolle, aber auch zurückhaltende Anwendung soziologischer Betrachtungsweisen. Das Buch präsentiert sich im Druck und mit ausführlichen Indices sehr gut. Falsche Stellenangaben sind mir S. 195 (Phil 2:12 statt 4:12), S. 245 (1 Cor 5:12 statt 6:12), S. 254 Anm. 59 (1Kor 8:10 statt 8:11) aufgefallen. S. 319 Anm. 252 muß es authades heißen. S. 259 ist wohl "in Antiochia" statt "in Galatia" gemeint.