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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1116-1119

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mittmann-Richert, Ulrike

Titel/Untertitel:

Der Sühnetod des Gottesknechts. Jesaja 53 im Lukasevangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XII, 427 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 220. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-148792-7.

Rezensent:

Christfried Böttrich

In der Lukasexegese gilt es seit wenigstens 50 Jahren als ausgemacht, dass der dritte Evangelist die Höhe der pln Theologie verlassen, die Kreuzesbotschaft verflacht, das Evangelium historisiert und überhaupt eine für die christliche Theologie auf lange Sicht problematische theologia gloriae eingeläutet habe. Unter dem Vorzeichen jenes vielzitierten Diktums, Lukas reise deshalb als eine Art »blinder Passagier« im Neuen Testament mit, ist das Doppelwerk in der exegetischen Diskussion zunehmend zwischen die Fronten von Anklage und Verteidigung geraten, wobei auch die Verteidigung letztlich den Prämissen der Anklage folgt. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit (eine Tübinger Habilitationsschrift) ein. Ihr geht es nicht um einen weiteren Aspekt hier, eine Korrektur da oder ein bislang unbeachtetes neues Argument dort. Sie will vielmehr einen Gegenentwurf zur bisherigen Lukasexegese liefern, so wie sie sich in ihren Hauptlinien, namentlich aber im Bereich der Soteriologie, darstellt. Ihrem erklärten Anspruch nach nimmt diese Arbeit eine forschungsgeschichtliche Kehrtwende, einen »Richtungswechsel« (66) bzw. eine »neue Grundlegung der lk Soteriologie« (85) überhaupt in Angriff. Hier geht es nicht nur um Reparaturen, sondern um Neubau. Auch wenn es in den letzten Jahren schon verschiedene Versuche gegeben hat, die Dilemmata der lk Soteriologie zu überwinden, scheint der Erfolg doch nur in einem Pendelschlag bzw. in einem Wechsel der Blickrichtung liegen zu können.
Die Einführung stellt einen solchen Perspektivenwechsel in zwei Schritten vor. Der erste setzt sich kritisch mit der bisherigen Lukasexegese auseinander und rüttelt an deren Fundamenten. Denn hier stehen nicht nur einzelne Sachfragen, sondern die hermeneutischen und methodischen Voraussetzungen insgesamt auf dem Prüfstand. Das Bild vom »blinden Passagier« aufnehmend wird die Seereise der Lukasexegese spritzig durchgespielt und pointiert, bisweilen auch mit Biss und Schärfe, als ein Ereignis von Irrfahrten, Schiffbrüchen, Nebelfahrten und Notankerungen dargestellt, gefangen in dem einmal eingeschlagenen (falschen) Kurs. Die Hauptkritik dieser streitbaren Darstellung trifft dabei zwei Paradoxien: Zum einen verwirren sich Anklage und Verteidigung auf unlösbare Weise, wenn der soteriologisch scheinbar defizitäre Ansatz des Lukas zunehmend als solcher akzeptiert und als ein achtbares Alternativmodell zur pln Kreuzestheologie verstanden wird; dem korrespondiert die exegetisch-systematische Debatte um das Verständnis des Todes Jesu im Sinne eines Geschehens von Stellvertretung und Sühne überhaupt. Der Vorwurf, den die Vfn. dabei erhebt, wiegt schwer: Als Alternative zur pln Kreuzestheologie unterstelle man Lukas ein Erlösungsverständnis, das in Jesu Tod lediglich eine psychologische Motivation des Menschen zur Umkehr sehe, das denselben als Medium menschlicher Selbst- und Sündenerfahrung betrachte und damit zum Mittel menschlicher Selbsterlösung mache. Damit bliebe am Ende nur noch das Modell einer radikal-synergistischen Heilslehre oder bestenfalls eine an-thropologisierte, um das Kreuz selbst reduzierte Kreuzestheologie übrig, wodurch schließlich auch das Sündenverständnis der frühen Christenheit seiner Ernsthaftigkeit beraubt werde. Das, was als Rehabilitierung des Lukas gedacht war, habe ihn unter der Hand endgültig desavouiert. Zum anderen halte die Lukasexegese paradoxerweise gerade in methodischer Hinsicht an einer einseitigen, formalisierten bzw. schematisch gewordenen Redaktionskritik fest, die ihr den Blick auf das intertextuelle Spiel des lk Doppelwerkes mit Jesaja, besonders aber mit dem vierten Gottesknechtslied aus Jes 53 verstellt. Deshalb setze man bei Lukas immer wieder einen »atomistischen Gebrauch« (48) der bekannten Zitate voraus und operiere »seit zwei Generationen an einem lukanischen Krebsgeschwür, das es gar nicht gibt« (49).
Wieso sollte Lukas »wieder und wieder einen Text ins Feld führen, der seine theologische Grundüberzeugung zutiefst erschüttert« (49)? Erst wenn Jes 53 als Bezugstext der lk Theologie im Ganzen wahrgenommen wird, könne es auch gelingen, deren Struktur positiv zu beschreiben. Im Ergebnis dieser kritischen Sichtung soll deshalb »enthüllt« (8) und »freigelegt« (43) werden, was durch eine lange Forschungsgeschichte verstellt war: nämlich das Profil eines Evangelisten, »der nur deshalb in den Himmel blickt, weil er das Paradoxon des Kreuzes bis in die Tiefen auslotet, und der sein persönliches Heil aus Jesu Stellvertretungstod ›für euch‹ erwachsen sieht« (54). Zur forschungsgeschichtlichen Positionierung gehört somit noch ein zweiter Schritt hinzu, der die Rolle von Jes 53 in der exegetischen Diskussion thematisiert. Auch hier stellt sich zu­nächst die hermeneutische Frage nach dem Bezugstext. Steht dieses Lied ursprünglich in einem kultischen oder in einem außerkultischen Kontext? Ist hier von Entschuldung oder von Sühne die Rede? Welche begriffsgeschichtliche Stufe ist für die sinntragenden Begriffe in Anschlag zu bringen? Die wichtigste Entscheidung lautet: »Den Ausgangspunkt bildet nicht der historisch-kritisch er­mittelte Textbefund als Verständnisgrund der neutestamentlichen Texte, sondern, umgekehrt, das urchristliche Verständnis all jener Aussagen, deren ursprünglich sühnetheologische Deutung strittig ist« (64). Von diesem rezeptionsorientierten Zugang aus wird dann das Abendmahl, jenseits der historischen Frage, als »Ort der Transformation der im Kultus beheimateten Bundesvorstellung« be­stimmt, »d. h. als Ort ihrer Loslösung vom Kultgeschehen und ihrer Verknüpfung mit der Lebenshingabe Jesu« (68 f.). Somit bewegt sich jede Deutung des Todes Jesu notwendig in einem kultischen Verstehenshorizont, der offenbarungsgeschichtlich bestimmt ist. Das führt zu der These, dass »die Sühne als das Ziel des Kultes auch das Ziel der Sendung Jesu« sei (75). Damit ist klar und prägnant jener Ansatz bezeichnet, der im Folgenden zur Durchführung ge­langt.
In den vier Kapiteln, die das Zentrum der Untersuchung bilden, wird Jes 53 nun als Subtext der lk Erzählung vorgestellt und entfaltet; das Profil der lk Christologie leitet sich demnach maßgeblich vom Vorbild des Gottesknechtes ab. Deshalb werden auch die soteriologischen Schlüsseltexte des Evangeliums als Geschichte des »Knechtes« Jesus analysiert, wobei die Untersuchung sachgemäß ihren Ausgangspunkt im Passionsgeschehen nimmt (I. Der Tod des Knechtes). Kreuzigung und Abendmahl sind die beiden zunächst untersuchten Textkomplexe, bevor die Frage nach der Gottesknechtschaft Jesu als Grundmotiv der lukanischen Passionsgeschichte im Ganzen und die Frage nach deren Quellen zur Sprache kommt. Die erste wird in der Nachzeichnung eines dichten Ge­flechtes kenntnisreicher Bezugnahmen beantwortet. Die zweite führt auf einen eigenständigen Zweig der Passionstradition zu­rück, der anders als Markus mit Ps 22 nun Jes 53 als Bezugstext wählt. Nicht dem Markustext, sondern der spezifischen Textgestalt der Gottesknechtslieder, die der Evangelist aufnimmt, gilt hier das Interesse; die Analyse ergibt, dass Lukas zudem zwischen hebräischer und griechischer Textform wohl zu unterscheiden versteht. Von der Passion aus führt der nächste Schritt hin zur Auferstehung (II. Die Erhöhung des Knechtes), die exemplarisch an der Emmausgeschichte behandelt wird. Daran anschließend geht es um das Göttliche als Schlüssel der Auferstehungserzählungen; was in der Lukasexegese als komprimierter Ausdruck heilsgeschichtlichen Denkens gilt, wird nun auf das theologische Konzept der Gottesknechtslieder zurückgeführt. Von da aus wendet sich die Untersuchung wieder zurück, zunächst zum Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu in der Nazaretperikope (III. Der Weg des Knechtes im Zeichen des Kreuzes), sodann zum Anfang des Evangeliums und zu der Erzählung vom Ursprung Jesu (IV. Die Geburt des Knechtes). In Lk 4 tritt nun vor allem der Bezug auf Jes 61,1 f. in den Mittelpunkt, der die Offenbarung des Gottesknechtes vor der Welt sichtbar macht; die Verwerfung Jesu am Ende der Perikope inszeniert vor dem Hintergrund des vierten Gottesknechtsliedes bereits »die menschliche Erkenntnisunfähigkeit als das Faktum, das zum Tod des Knechts, damit aber auch zur Befreiung des Menschen von eben dieser seiner Verblendung führt ...« (264); ein weiterer Abschnitt thematisiert die Messianität des Knechtes und sein prophetisches Amt, wobei die Vernetzung der christologischen Titel bei Lukas zur Debatte steht. Für Lk 1–2 kann die Vfn. dann weitgehend auf die Ergebnisse ihrer Dissertation (Magnifikat und Benedictus. Die ältesten Zeugnisse der judenchristlichen Tradition von der Geburt des Messias, WUNT 2/90, Tübingen 1996) zurück­greifen; auch auf der Ebene der Lukaserzählung schließt sich damit ein Kreis – »Die Geburt des Knechtes ist der Anfang seines Weges in den Tod, aus welchem für den Menschen das Leben erwächst ...« (312).
Die Untersuchung präsentiert sich in Gestalt vorzüglicher Exegesen, die Genauigkeit in der Beobachtung mit Originalität im Zugriff auf den Text verbinden, vor allem aber das intertextuelle Gespräch, das Lukas führt, minutiös herausarbeiten. Sechs zum Teil umfangreiche Exkurse liefern zudem Querschnittsanalysen, die nach eigenem Bekunden in ihrer Gesamtheit als »Grundstock einer neuen Theologie des Lukasevangeliums« (85) konzipiert sind. Der Ausblick liefert dann noch einmal eine Reihe knapper, zitier­-fähiger Zusammenfassungen: »Der Tod des Knechts ist das Ge­heimnis seiner messianischen Existenz«; »Rückt man aber den Gottesknecht ins Zentrum der Betrachtung, so formt sich aus den angeblich nur lose miteinander verknüpften Motiven ein klares Bild«; Lukas erscheint als »ein Kreuzestheologe ersten Ranges«; schließlich – »Das Lukasevangelium ist im Vier-Evangelien-Kanon das paulinische Evangelium« (alle 313).
Es ist zweifellos das große Verdienst dieser als Rehabilitation eines verkannten Theologen angelegten Arbeit, den Evangelisten Lukas aus der Ecke des »Frühkatholizismus« herausgeholt, ihn aus verschiedenen unzulänglichen, wenngleich wohlmeinenden Verteidigungen befreit und ihm im Chor der neutestamentlichen Theologie wieder eine achtbare, gewichtige Stimme verliehen zu haben. Die einst von Reese beklagte »Langeweile in der Lukasforschung« dürfte mit diesem Buch jedenfalls kräftig aufgemischt werden! Dennoch bleibt, wie bei allen Pendelschlägen, eine gewisse Skepsis zurück. Auch wenn die bisherige Lukasforschung das Kind oft genug mit dem Bade ausgeschüttet hat, kamen ihre Schlüsse doch nicht so ganz von ungefähr. Bei allen zugestandenen Irrungen lag nicht nur Nebel auf der lk Seefahrt, sondern auch mancher klare Sonnentag, in dessen Licht die Eigenheit des Lukas eben doch zunächst als eine ganz andere als die des Paulus er­scheint. Ob die Arbeit, indem sie derart radikal »klar Schiff« macht, nicht auch manche Einsicht der bisherigen Forschung zu Unrecht über Bord wirft? Ungeteilte Zustimmung verdient die Erkenntnis, dass Lukas ein Antipode des Paulus definitiv nicht ist! Doch muss man ihn deshalb im Gegenzug wirklich als den konsequentesten Pauliner betrachten? Alternativ ist das Modell des Lukas nicht hinsichtlich eines grundsätzlichen Dissenses in Sachen Soteriologie, aber doch wohl hinsichtlich der Art und Weise, wie er dieselbe zur Darstellung bringt. Die hier vorgelegte Arbeit ist deshalb vor allem in ihrer Geschlossenheit zu würdigen. Gerade durch ihre Konzentration auf einen ansonsten weithin übergangenen Bezugsrahmen erweist sie sich als ein notwendiger und wichtiger Impuls für die gegenwärtige Lukasexegese.
Am Schluss des Eingangsteils hat die Vfn. in Aussicht gestellt, ihre zunächst auf das Evangelium begrenzte Studie noch durch eine Fortsetzung auf die Apostelgeschichte hin auszudehnen (85). Man kann diesem zweiten Teil nur mit großer Spannung entge­gensehen!