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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1113-1116

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Meynet, Roland

Titel/Untertitel:

Une nouvelle introduction aux évangiles synoptiques.

Verlag:

Paris: Lethielleux 2009. 380 S. gr.8° = Rhétorique sémitique, 6. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-2-283-61033-6.

Rezensent:

Wolfgang Schenk

Die klassische (griechisch-römische) Rhetorik, die auch die moderne Kultur bestimmt, ist nicht die einzige, die es überhaupt gibt, wie man ethnozentristisch meinen könnte, sondern die Bücher der hebräischen Bibel und ihre Übersetzungen folgen einer orientalischen bzw. semitischen Rhetorik, deren Erforschung sich die »Société internationale pour l’Étude de la Rhétorique Biblique et Sémi­-tique« (RBS) widmet. Roland Meynet S. J. hat sich an der gregorianischen Universität Rom dieser Aufgabe besonders angenommen und legt hier eine neue Einführung in die synoptischen Evangelien vor, wie er sie seit zehn Jahren in Rom lehrt (Übersetzung der italienischen Ausgabe, die in 2. Aufl. schon 2006 in Bologna erschien), wobei M. besonders häufig erläuternd auf die ausführlichere Darstellung der Einzelheiten in Rhétorique sémitique, 1 (L’Évangile de Luc, 2005) und 4 (Traité de rhétorique biblique, 2007) zurückgreift.
Eine kurze Zusammenfassung der Segmente wird eingangs vorgestellt, und zwar fünf niedere (nicht autonome): »terme« (Lexem), »membre« (Syntagma) als minimale rhetorische Einheit, »segment« (bestehend aus ein, zwei oder drei »membres«), »morceau« (Ab­schnitt, bestehend aus ein, zwei oder drei »segments«), »partie« (Teil, bestehend aus ein, zwei oder drei »morceaux«); und vier höhere (autonome), die aus einer oder mehreren Einheiten der vorangehenden Ebenen gebildet sind: »passage« (Perikope), »sequence«, »section«, »livre« (17 f.); ferner drei Figuren der vollständigen Symmetrie (18): »construction parallele« (Parallelismus als Gegensatz zu Konzentrismus), »construction spéculaire« (Spiegel bzw. antiparallel; bei nur vier Gliedern: Chiasmus), »construction concentrique« (um ein Zentrum herum), sowie fünf der teilweisen Symmetrie (19): »termes initiaux« (Anaphora), »termes finaux« (Epiphora) »termes extrêmes« (Inklusio), »termes medians« (Ende einer textuellen Einheit und Anfang der ihr symmetrischen), »termes centraux« (Zentren von zwei symmetrischen Einheiten).
Zur Orientierung über den Weg der Analyse beginnt man am besten mit den Exkursen über die beiden Dekaloge (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21; 76–110) und die zwei Vaterunser-Fassungen (169–189). Die vier Teile, aus denen der erste Exodus-Katalog komponiert ist (Ex 20,2–7.8–11.12.13–17), haben folgende Besonderheiten: Die beiden äußeren sind durch je sechs negierte Verben bestimmt, während der Erste durch vierfaches »Herr« (dein Gott) dominiert ist, ist der Letztere durch ein Fehlen dieses Namens und stattdessen durch ein vierfaches »dein Nächster« beherrscht. Die beiden Innenteile be­ginnen mit einem positiven Befehl (Ex 20,8.12a), haben je einmal den Gottesnamen (Ex 20,10a.12c) und erscheinen im gleichen se­man­tischen Wortfeld der Verwandtschaft (Sohn/Tochter Ex 20,10a; Vater/Mutter 20,12a). Von den vier Teilen des deuteronomistischen Dekalogs (Dtn 5,6–11.12–15.16.17–21) ist der erste mit dem des Exodus identisch (100.105), während der zweite das Sabbatgebot mehr von der Befreiung aus Ägypten als von der Schöpfung her interpretiert.
Die Inklusio (V. 12b.15d) betont das von Gott Gebotensein des Sabbattages, wie es V. 16b für das Elterngebot wiederholt. Im vierten Teil entsprechen die drei Verfehlungen der zweiten Hälfte (V. 20–21), parallel den drei Geboten der ersten (V. 17–19). Die matthä­ische Vaterunser-Fassung wird zu Unrecht als aus zwei Teilen bestehend angesehen. In Wahrheit ist die Komposition konzentrisch komponiert – mit der positiven Brotbitte im Zentrum im Unterschied zu den negativen Bitten der letzten drei. Die verkürzte Fassung des Lukas ist ebenso konzentrisch komponiert.
Der Hauptteil des Buches ist viergeteilt: Kapitel 1 (51–125) widmet sich den drei synoptischen Passagen der Heilung des Blinden von Jericho und des Appells an den Reichen nach ihren inneren Kompositionen. Die Heilung von Jericho besteht bei Mt 20,29–34 (52–56) aus zwei kurzen äußeren Gliedern (29–30a.34, die die Anfangs- und Schlusssituation schildern) und zwei Mittelgliedern (V. 30b–31 mit zwei Hilferufen der Blinden und V. 32–33 mit der Rückfrage Jesu und der erklärenden Antwort der Blinden). Bei Mk 10,46b–52 (56–63) entsteht durch den mk Zusatz (V. 49–50) eine konzentrische Struktur wie bei Lk 18,35–43 (64–69) durch V. 39–40, wobei dieses Zentrum wiederum in sich konzentrisch ist (die äußeren Glieder V. 39a.40a rahmen das zentrale V. 39b). In gleicher Weise wird danach die Berufungsgeschichte des Reichen analysiert: Mt 19,16–22 (72–55.110–113) ist dreigeteilt, wobei das Zentrum (V. 18–20 zitierte Dekaloggebote) von den äußeren Gliedern (V. 16–17.21–22) eingerahmt wird. Bei Mk 10,17–22 dagegen bildete das von vier konzentrischen Gliedern (V. 17.22 und V.18. 21) umgebene Zentrum der Vers 20 (Zitat Ps 71,5.17), wobei »gut« den Herrn selbst qualifiziert, während Mt es auf das Tun bezog (114–119). Bei Lk 18,18–27 sind gar drei konzentrische Ringe (V. 18–19.26–27 und V. 20.24–25 und V. 21a.23) um das noch weiter verschobene Zentrum V. 22 gelagert (120–125), und der Fragende ist zu einem »Vorstehenden« gemacht worden (V. 18).
Kapitel 2 (127–226) erweitert die in Kapitel 1 besprochenen Passagen um deren unmittelbaren Kontext: Dem Bartimäus wird Mk 10,35–40 (Zebedaiden) und 41–46a (zehn Jünger) vorgeschaltet, um insgesamt die Maxime »Jesus öffnet die Augen seiner Schüler« auszudrücken (128–137). Mt (20,29–34) erreicht dasselbe auf die gleiche Weise (138–150). Lk (18,35–19,10) hat keine solchen Vorordnungen, dagegen die Beispielgeschichte von Zachäus nachgeordnet (150–158). Beide Personen wollen Jesus sehen, sind aber verhindert, während Jesus diese Hindernisse beseitigt. Auch die Passage vom Appell an den Reichen (159–226) wird in seinem unmittelbaren Kontext analysiert: Mt 19,1–26 beginnt mit der Frage des Ehebruchs (V. 3–9), gefolgt von der Frage nach der freiwilligen Enthaltsamkeit (V. 10–12), den Kindern (V. 13–15), während sich V. 23–26 (Gefahren des Reichtums) anschließt, so dass die Kinder im Zentrum des Ganzen stehen wie »Vater und Mutter« in ihren Segmenten (V. 5.19). Auch bei Mk 10,1–27 stehen Jesus und die Kinder (13–16) im Zentrum, gerahmt von der Frage des Ehebruchs (V. 2–9) und der Unlösbarkeit der Heirat (V. 10–12), und danach der reiche Mann (V. 17–21) und die Gefahren des Reichtums (V. 23–27). Bei Lk 18,15–30 rahmen V. 15–17 und V. 28–30 das zusammenfassende Zentrum V. 18–27.
Die Komposition der Passage im weiteren Kontext untersucht das 3. Kapitel (227–340): Mk 10,1–52 hat drei Zentren (228–243). Zuerst V. 13–16 (Appell an die Jünger, zu werden wie die Kinder) als Zentrum zwischen V. 1–9.10–12 (Offenbarung der Herzens-Sklerose der Pharisäer und Einladung der Jünger zu Treue) und V. 17–22.23–27 (Offenbarung der Trauer eines Reichen und Einladung der Jünger zum Glauben), danach V. 31 die lapidare Zentralformulierung (Letzte werden Erste) nach V. 28–30 (die verfolgten Jünger erben das ewige Leben) und vor V. 32–34 (der getötete Jesus wird auferweckt) und das dritte Zentrum V. 42–46a (die Jünger als Diener) zwischen V. 35–41 (Einladung der Zebedaiden zum Glauben) und V. 46b–52 (Jesus öffnet dem Blinden die Augen und erkennt seinen Glauben). Mt 19,27–20,19 (243–275) rahmen die Passagen (19,17–29; 20,17–19) die zentrale Parabel 20,1–15, deren zentrales Logion 20,8b in 19,30 und 20,16 rahmend wiederholt ist. Lk 17,11–18,30 (276–31) stehen die beiden Parabeln 18,1–8a und 18,9–14 um die zentrale Frage 18,8b im Zentrum, die konzentrisch gerahmt sind von 17,11–37 und 18,15–30. In der Sequenz Lk 18,31–19,46 (301–337) rahmen die beiden Jericho-Episoden (18,1–19,10 Blinder, Zachäus) und die beiden Ölberg-Szenen (19,29–36.37–40 Einsetzung und Akklamation des Königs) die zentrale Königsparabel (19,11–28) und die äußersten Glieder das Schicksal Jesu in Jerusalem (18,31–34) bzw. die Bestimmung Jerusalems (19,41–46).
Kapitel 4 (341–359) fasst kurz rücklaufend den globalen Kontext im Lukasbuch zusammen: Lk 19,47–21,38 (341–350) umfasst mit zwei kurzen Einleitungen (19,47–48; 21,37–38) die Kontroversen (20,1) durch das kurze christologische Segment 20,41–44. Lk 17,11–21,38 (350–355) rahmen die Außenglieder 17,11–34 und 20,45–21,36 drei Zentren mit je einer Parabel (18,1–14; 19,11–28) bzw. einem Zitat aus Ps 110 (20,41–44). Lk 9,51–21,38 (355) rahmen die parallelen Außenglieder (9,51–10,42; 11,1–54; 12,1–13,21 bzw. 17,11–18,30; 18,31–19,46; 19,47–21,38) das Zentrum (13,22–14,35; 15,1–17,10), in dem sich 14,11 und 16,15 entsprechen. Lk 1,1–24,53 (356–359) rahmen die Außenglieder 1,5–4,13 (das Kommen Christi, vorbereitet von den Gesandten des Herrn) und 22,1–24.53 (das Ostern Christi, angekündigt in den Schriften für Israel) die Innenglieder 4,14–9,50 (Jesus konstituiert die Gemeinschaft der Jünger in Galiläa) und 9,51–21,38 (Jesus leitet die Gemeinschaft der Jünger nach Jerusalem). Nachwort, Bibliographie und Autorenregister beschließen diesen profunden Band.