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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1111-1113

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Keith, Chris

Titel/Untertitel:

The Pericope Adulterae, the Gospel of John, and the Literacy of Jesus.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2009. XVI, 320 S. gr.8° = New Testament Tools, Studies and Documents, 38. Geb. EUR 119,00. ISBN 978-90-04-17394-1.

Rezensent:

Ulrich Busse

Hier wird eine überarbeitete, in Edinburgh unter der Anleitung von Helen K. Bond erstellte Dissertation einem breiten Publikum vorgelegt. Sie befasst sich auf erfrischende und kreative Weise mit einer textgeschichtlich seit Erasmus von Rotterdam umstrittenen Perikope, deren kanonische Authentizität fraglich ist und die aus diesem Grund in neueren Kommentaren nur noch en passant behandelt wird. In der Forschung hat sich ein Konsens herausgebildet, dass die Geschichte von der Ehebrecherin, die häufig mit verändertem Schriftbild zwischen Joh 7,52 und 8,12 eingeschoben ist, nicht zum Ursprungstext gehört, sondern erst knapp vor der Zeit der großen lateinischen Kirchenväter Hieronymus, Am­brosius und Augustinus, die sie als bekannt voraussetzten, in den Urtext eingedrungen ist. Alle alten griechischen und syrischen Textzeugen kennen diese Perikope nicht, aber es gibt einige Anspielungen in der Didaskalia und bei Didymos von Alexandrien, die eine solche Begebenheit vorauszusetzen scheinen. Ihre seit den genannten Kirchenvätern sich verfestigende Positionierung im Johannesevangelium bestätigen auch viele aus der Koine-Textfamilie stammende Kodizes, obwohl einige unter ihnen sie nach Lk 21,38 oder nach Joh 21,24 einfügen. Vor allem umstritten ist daher, ob diese Geschichte eine synoptische oder eher doch eine johanne­ische Form widerspiegelt. In der deutschsprachigen Forschung wird meistens vorausgesetzt, »daß diese Quelle synoptischen Charakters gewesen sein muß, ›dies‹ ist so allgemein anerkannt und liegt so offen zutage, daß es hierüber weiterer Worte nicht bedarf« ( A. Resch, Agrapha, 21908, 53). Diese Überzeugung wurde in der englischsprachigen Exegese nicht so eindeutig vertreten, weshalb dort (vgl. die neueren Arbeiten von B. D. Ehrman) dieses Problem heftiger diskutiert wird. So auch in unserem Fall.
K. stellt sich aber nicht nur dieser Frage, sondern versucht den Weg nachzuzeichnen, den diese »ideale Szene«, deren Form von ihm näherhin als Streitgespräch identifiziert wird, aus der oralen ur­christlichen Tradition in die frühchristliche Literatur genommen hat. Die Arbeit behandelt also vor allem zwei Komplexe: die Überlieferungsgeschichte und vorrangig den besonderen Grund, aus dem diese Perikope gerade an dieser Stelle eingeschoben wurde, obwohl sie doch den Zusammenhang zwischen der Nikodemus-Episode (7,50 ff.) und dem Bekenntnis Jesu, das Licht der Welt zu sein (8,12), sprengt. Da die Arbeit durchgängig thetisch aufgebaut ist, der Leser also im Nachhinein die Argumente geliefert be-kommt, die für die vorangestellte These sprechen, kann man der Argumentation leicht folgen. Ihre beiden Hauptthesen sind:
1. Die Perikope passt ausgezeichnet zum vorangegangenen Kontext (Joh 7,15.49.51), wo die Tora-Bildung Jesu von der Leitungselite infrage gestellt wird. Die Perikope mit ihrem zweimaligen Hinweis, dass Jesus schreiben könne, soll dazu einen Kontrapunkt setzen. Jesu Bildung im Lesen und Schreiben ist derjenigen der Pharisäer jedenfalls gleichwertig und in der Tora-Auslegung sogar überlegen. Die in der Auslegungsgeschichte seit den Kirchenvätern um­strittene Frage, was Jesus wohl in den Sand geschrieben habe (u. a. Ex 20,17; 31,18; Dtn 9,10; Jer 22,29 f.; Mal 2,11), will K. mit Verweis auf bislang wenig bemerkte intertextuelle Sprachsplitter aus Ex 31, 18; 32,15–18 klären, da JHWH dort eben auch mit den Fingern den Dekalog auf die Tafeln schreibe.
2. Auf dieser Grundlage löst sich für K. auch das textgeschicht­liche Problem. Die in urchristliche Zeit zurückreichende, mündlich tradierte Episode wurde nicht – wie häufig angenommen – von der entstehenden Großkirche un­terdrückt, sondern im 3. Jh. (ca. 380 n. Chr.) von einem Interpolator eingefügt, um das Autoritätsprofil eines gebildeten Jesus für die Kirche seiner Zeit zu schärfen. Dessen sozialgeschichtlicher Hintergrund lässt sich noch annähernd bestimmen. Juden wie Heiden kritisierten die christliche Be­wegung und ihren Gründer auf das Heftigste, weshalb es geboten schien, apologetisch die Be­deutung von und den Bedarf an hochgebildeten Christen für die Kirche an der nun lese- und schreibkundigen Jesusgestalt zu demonstrieren.
Diese auf den ersten Blick überzeugend argumentativ vorgetragenen Thesen können nicht in allen Punkten überzeugen. Überraschend fehlt in der Wortfeld- und soziologischen Untersuchung (Kapitel 2 und 3) jeglicher Hinweis auf die Verwendung des Wortes und dessen bildungspolitischen Hintergrundes bei Philo, der sicherlich die vorgetragenen Thesen unterstützt hätte. Der Hinweis auf Ex 31,18; 32,15–18 vermag inhaltlich und theologisch nicht zu überzeugen. Dort meißelt JHWH nämlich mit seinen Fingern den Dekalog in die steinernen Tafeln ein und schreibt nicht in den Sand. Die biblische Darstellung will eher JHWHs Macht und Autorität (vgl. Lk 11,20) akzentuieren als darin eine Anspielung auf das Gericht (Jer 17,13) sehen. Auch gerät die Mosegestalt ins Zwielicht, wenn Jesu Tätigkeit mit der von JHWH am Sinai gleichgesetzt wird. Spekulativ erscheint auch der »Sitz in der Literatur«, dass nämlich hier mithilfe der gegenüber der neutestamentlichen Tradition, wo Jesus nur lesen kann (vgl. Lk 4,16 ff.), dessen nachträglich hervorgehobene ganzheitliche Bildung betont wird, um den Bedarf an gebildeten Christen im intellektuellen Kampf gegen die Widersacher im 4. Jh. zu untermauern. Dazu gab es damals wenig Anlass, da viele Kirchenväter auch vorher schon hochgebildet waren. Eher scheint sich hinter der Differenz in der Beurteilung des Ehebruchs zwischen Jesus und den »Schriftgelehrten und Pharisäern« (unjohanneische Aufzählung, s. aber Mt) ein innerkirchlicher Streit zwischen Mönchen, die als Anachoreten Heiligkeit anstreben und beanspruchen, und den in der Welt lebenden Christen mit ihren (Ehe-)Problemen zu verstecken, der mit dieser Imitation einer »idealen Szene« auf eine quasi-synoptische Weise autoritativ durch Jesus gelöst werden soll. Zwar mag die Entstehungszeit dieses »Agraphons« möglicherweise in der Zeit des Papias liegen, aber sicher ist das nicht, weil diese Notiz nur bei Euseb (h.e. III 39,17) überliefert ist, der sie in einem heute unbekannten Hebräerevangelium und nicht im Kanon gelesen haben will. Letzterem stimmt auch K. ausdrück­lich zu.
Diese kritischen Einwände schmälern jedoch nicht den insgesamt positiven Eindruck. Es wird nicht nur in den Stand der Forschung über eine textgeschichtlich und theologisch-ethisch um­strittene Perikope, die ein »unjohanneischer Gast im Johannesevangelium« bleiben wird (H. Thyen in FS K. Berger, 2000, 433–445.433), umfassend und kompetent eingeführt, sondern es werden auch frisch und mutig neue Hypothesen auf argumentative Weise vorgetragen. Vor allem die Begründung der Einfügung der Geschichte durch einen Interpolator gerade an dieser Stelle des Johannesevangeliums ist höchst bedenkenswert. Denn in der Tat wird mit ihr nachträglich das in Kapitel 7 eingeführte Bildungsargument von der schriftgelehrten und pharisäischen Überlegenheit der Je­rusalemer Autoritäten konterkariert.