Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1107-1109

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hartsock, Chad

Titel/Untertitel:

Sight and Blindness in Luke-Acts. The Use of Physical Features in Characterization.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2008. VI, 226 S. gr.8° = Biblical Interpretation Series, 94. Geb. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-16535-9.

Rezensent:

Manfred Lang

Die vorzustellende Arbeit, eine D-Thesis aus dem Jahr 2007, versteht sich zunächst als eine ausschließlich literarisch agierende Analyse der Apostelgeschichte, deren Ziel darin besteht, »to understand what an ancient [!] audience might have heard when reading these texts. Specifically, this book is a literary study in characteri­zation, particularly the use of physical descriptions as a means of char­ac­teri­zation.« (1) Die antike Einsicht wird vorausgesetzt, dass sich Cha­rakter und Physis eines Menschen jeweils spiegelbildlich entsprechen. Neben diese Eigenart tritt das metaphorische Verständnis einer Passage, das gleichwohl antik wie modern ist. Phy­siognomisches wie metaphorisches Verständnis von »Blindheit« sollen somit Gegenstand der Arbeit sein.
Daraus ergibt sich die Disposition der Arbeit: Kapitel 2 (7–51) stellt die vier relevanten Texte zur Physiognomik in ihrer grundsätzlichen Bedeutung vor. Besonders tritt der in das 3. Jh. v. Chr. zu datierende pseudo-aristotelische Text φυσιογνωμονικά in den Blick. Es folgt die Wirkungsgeschichte anhand des Hippocrates und des Galen. Mag hier die systematische Entwicklung eines Er­klärungsmodells erst jüngeren Datums sein, die ältesten Ansätze reichen bis zu Homer (32–36). Vor Galen ist Antonius Polemon (ca. 90–145 n. Chr.) zu nennen, dessen Werk jedoch nur in gekürzter lateinischer sowie in einer arabischen Übersetzung erhalten ist. Seine auf die pseudo-aristotelische Schrift zurückgreifenden Darstellungen sind durch Ergänzungen jener anschaulicher und lesenswerter. Zwei weitere Arbeiten zur Thematik ›Physiognomik‹ sind unter dem Namen Adamantios, einem Arzt aus dem 4. Jh. n .Chr., bzw. einem anonymen Lateiner erhalten. Sie sind jedoch beide jeweils eine Paraphrase des Antonius Polemon. Die zugrunde gelegte Methodik, mit der in diesen antiken Texten physiognomisch gearbeitet wird, ist unterschiedlich:
– Zoologisch; in diesem Verfahren werden Parallelen zwischen dem menschlichen Charakter und einer ausgewählten Tiergattung vorgenommen (z. B. das breitschultrige Auftreten des Menschen im Vergleich zu demjenigen des Löwen). Pseudo-Aristoteles kritisiert diesen Zugang als zu unspezifisch, wohingegen Antonius Polemon diese Methodik positiver rezipiert.
– Ethnisch; hier werden die jeweiligen Völker nach Verhaltensmaßregeln analysiert und jeweils generalisierend einem Schema zugewiesen. So vermutet beispielsweise Antonius Polemon in Griechenland das Herz der Welt und unterteilt die Welt von dort in die jeweiligen Himmelsrichtungen, die gleichbedeutend sind mit dem ›Abweichen von dieser Norm‹, je weiter man sich von dort entfernt.
– Physiologisch; hier werden beispielsweise Gesichtsausdrücke als Sinnbild für die dahinterliegende Haltung verwendet.
Nach diesen methodischen Zugängen werden ausgewählte Beispiele aus Homer, dem philosophischen Traktat sowie der Biographie hinzugefügt (Sueton und Plutarch), die die konkrete Verwendung der Physiognomik nachweisen. Kapitel 3 (53–81) folgert nun, dass die Augen-Partie der Ort für ein physiognomisches Sehen sei, wie sich in Anlehnung bereits an Pseud-Aristot Physiogn 814b ergibt und durch Plutarch argumentativ dahingehend aufgenommen worden sei, dass sich anhand einer bestimmten Augenphysiognomie auf den jeweiligen Charakter schließen lasse. Die weitere Analyse ergibt tiefgreifende thematische Querschnitte (Blindheit als das größte aller Übel; Blindheit als Strafe; Blindheit als Ignoranz; nur der Blinde sieht wirklich), die den Topos der Blindheit in der griechisch-römischen Umwelt eindrucksvoll vor Augen stellen. Mit Kapitel 4 (83–124) wird biblischer Boden betreten, wenn Physiognomie und Blindheit im Alten Testament und und zur Zeit des Zweiten Tempel analysiert werden. Hier werden als Beispiele Belege zu Ehud, Saul sowie Esau, Simson, David, Mephiboschet und Absalom angeführt, die alle­samt vielfältig die Vorstellung bezeugen, dass physische Konsis­tenz ein Indikator für den Charakter sei. Kapitel 5 (125–165) bearbeitet mit Ausnahme des lukanischen Doppelwerkes das Neue Testament und verhandelt zudem die frühchristlichen Autoren bis zu Euseb: Mt 6,22 f. par.; Lk 11,34–36; Joh 9; Mk 8,22–26; 10,46–52. Dabei wird deutlich, dass »Bartimaeus seems to be the lone character that breaks the topos of the blind character. These two, then, function in a type-antitype relationship in order to underscore some of this Gospel’s most central points.« (157) Vor allem Bartimäus komme der in der Antike nicht exakt vorgebildeten Kategorie des ›blinden Sehers‹ am nächsten: »Bartimaeus sees it as he both recognizes Jesus before he is able to physically see and as he is said to follow Jesus ›along the way‹ after he is healed; likewise, the audience of Mark, it is hoped, will see this as well.« (160) Sind für die bisherigen Textpassagen die methodischen Rahmenbedingungen nicht immer exakt nachweisbar, so ändert sich dies nach Ansicht des Vf.s mit dem lukanischen Doppelwerk (Kapitel 6: 167–205). Die eingangs genannten methodischen Zugänge werden jetzt konkret aufgenommen:
– Der zoologische Zugang beispielsweise in Lk 3,7, wobei die Bezeichnung als ›Schlangenbrut‹ mit Polemons Charakterisierung übereinstimmt, wonach die Viper einen inkonsistenten Charakter habe, der leicht zur Flucht neige.
Ethnographische Physiognomie zeige sich etwa anhand der Erwähnung eines Äthiopiers (Apg 8), der nach Pseudo-Aristoteles als feige einzuschätzen sei.
– Die physiologische Dimension greift auf das Thema der Abrahams-Kindschaft zurück: Niemand ist von der eschatologischen Gemeinschaft aufgrund seiner physiologischen Erscheinung ausgeschlossen.
Weitere Texte werden im Anschluss an eine Arbeit von M. Parsons entfaltet (Lk 13,7–10; 19,1–10; Apg 3; 8) und zeigen, dass einerseits eine physiognomische Lektüre möglich ist, jedoch in der Ge­schichte bisweilen nichts von einer Veränderung der entsprechenden Person angesichts des Handelns Jesu gesagt wird (z. B.: Zachäus bleibt klein). Gerade darin zeige sich der Charakter der Gottesherrschaft. Nach diesem Überblick erfolgt die Analyse des Phänomens Blindheit im lukanischen Doppelwerk (172–205), wobei folgende Texte analysiert werden: Lk 4,18–30; 6,39; 7,21 f.; 14,12–24; 18,35–43; Apg 9; 13,4–12; 28,23–31. Anhand dieser Texte wird deutlich, wie sehr ›Blindheit‹ im übertragenen Sinn zu verstehen ist. So heißt es beispielsweise für 6,39: »The blind person is assumed to be spiritually blind, and thus the spiritually blind person cannot lead anyone, not even another spiritually blind person.« (179) Die weitere Analyse der Texte 13,4–12 u. a. im Verbund mit 28,23–31 ist hinsichtlich der möglichen metaphorischen Lektüre, des Phänomens der (göttlichen) Strafe desjenigen, der von Haus aus als spirituell ›einsichtig‹ gilt (Elymas), schlüssig vorgenommen worden.
Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse (207 f.), Literaturverzeichnis (209–218), Namenregister (221–223) sowie ein Register (lediglich) der biblischen Stellen (224–226) beschließen den Band.
Die Arbeit des Vf.s bietet einen anregenden Abriss über ein Phänomen antiker Erkenntnistheorie. Mag dieses für heutige Augen befremdlich aussehen, so ist es im kulturhistorischen Kontext des Neuen Testaments eine verbreitete Praxis gewesen. Die vom Vf. eröffneten Möglichkeiten eines vertieften Verständnisses neutestamentlicher Texte unter diesen Rahmenbedingungen werden kenntnisreich vor Augen gestellt. Dass sich diesbezüglich die zoologische Methodik nicht wird in der neutestamentlichen Exegese durchsetzen können, zeigt der Vf. selbst. Das dürfte genauso sachgemäß sein wie die zustimmende Betonung metaphorischer Lesarten, die Lukas selbst eröffnete. Gleichwohl bleibt zu fragen, warum der Vf. nicht Apg 6,15; 7,55 behandelt hat, zumal anhand von Ps-Aris­tot Physiogn 808b genau dieser Zusammenhang dort leicht erkennbar wird: Die veränderte Seele verändert selbstverständlich auch das Angesicht des Stephanus selbst (vgl. ferner Physiogn 806a)! Ob darüber hinaus die These überzeugen kann, wonach Paulus in Apg 9 als ›Drache‹ gezeichnet sei, der über einen wertvollen Schatz wache (aufgrund von V. 1–3: jüdische Lehre), mag dahingestellt sein; die Darlegungen, wonach seine Blindheit eine metaphorische impliziere, dürften zutreffend sein. Insgesamt machen die Analysen des lukanischen Doppelwerkes leider gerade mal knapp 20 % der gesamten Arbeit aus, angesichts des Titels ein etwas unglückliches Verhältnis.
Kritisch muss zur Arbeit Folgendes gesagt werden: In formaler Hinsicht ist auf den Seiten 29, 61, 93, 125, 157, 197 ein Fehler in der Satzbelichtung zu verzeichnen, der den dort verzeichneten Text überdeckt und unlesbar macht. Bei einem Buch dieser Preisklasse sollte das nicht passieren.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Arbeit einen anregenden Beitrag zur Exegese der Apostelgeschichte in deren kulturhistorischen Rahmenbedingungen geleistet hat. Facettenreich wird dieses Verständnis entfaltet und am Text verifiziert.