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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1104-1107

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, Herzer, Jens, Janßen, Martina, u. Clare K. Rothschild [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen. Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters. Hrsg. unter Mitarbeit v. M. Engelmann.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XII, 901 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 246. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-150042-8.

Rezensent:

Armin D. Baum

Eine (nicht unbeträchtliche) Gruppe von Neutestamentlern stuft in der Tradition von F. D. E. Schleiermacher frühchristliche Pseud­epigraphen als transparente Fiktionen ohne Täuschungsabsicht ein. Dagegen ist eine andere Gruppe, der u. a. der Rezensent angehört, der Meinung, dass die Verfasser pseudepigrapher Paulus- und Petrusbriefe ihren Lesern eine apostolische Herkunft dieser Schriften vortäuschen wollten und solche Briefe daher als literarische Fälschungen zu gelten haben. Zwischen diesen beiden einander ausschließenden Positionen sucht dieser umfangreiche Sammelband nach einem dritten Weg, der Elemente aus beiden Lagern aufnimmt. Diejenigen Autoren, die einen differenzierteren dritten Weg beschreiten wollen, schlagen vor, lediglich einige Pseud­epigraphen des Neuen Testaments als literarische Fälschungen und die pseudepigraphen Verfasserangaben anderer neutestamentlicher Briefe als transparente literarische Fiktionen zu deuten. Besonders deutlich tendieren die Herausgeber J. Frey für die Petrusbriefe und J. Herzer für die Pastoralbriefe in diese Richtung. Für Herzer handelt es sich bei 2Tim und Tit (falls sie unecht sind) um literarische Fälschungen, während der nachpaulinische 1Tim als täuschungsfreies Schulpseudepigraphon zu betrachten sei. Und Frey unterscheidet zwischen der schwachen und transparenten Verfasserfiktion des 1Petr und der wesentlich expliziteren Zuschreibung des 2Petr, der (gegen R. Bauckham) als literarische Fälschung zu gelten habe. Diese Haupttendenz des Sammelbandes wird jedoch nicht von allen Mitautoren geteilt. Einige Exegeten, wie K. M. Schmidt, der beide Petrusbriefe als täuschungsfreie Pseud­epigraphen einstuft, bewegen sich weiterhin in einer der beiden »alten« Spuren. Und M. Frenschkowski scheint nach wie vor, auf der anderen herkömmlichen Spur, alle neutestamentlichen Pseud­epigraphen für literarische Fälschungen zu halten.
In einem ersten, relativ knappen Hauptteil zu frühjüdischen Kontexten (27–101) zeigt L. G. Perdue (Brite Divinity School, Fort Worth, Texas), dass Pseud­epigraphie bereits in der altvorderorientalischen Literatur praktiziert wurde, um sich anschließend vor allem auf die Weisheitsliteratur und das Verhältnis zwischen Pseudepigraphie und Mimesis zu konzentrieren: Der anonyme Verfasser der Weisheit Salomos hat seinen Lesern nicht vorgetäuscht, der König Salomo zu sein (28–59). K. M. Hogan (Fordham University, New York) stellt fest, dass als Personennamen für frühjüdische Apokalypsen vor allem sog. »Brückenfiguren« gewählt wurden, die an den zentralen Bruchstellen der jüdischen Geschichte (Flut – Exodus – Exil) eine bedeutende Rolle gespielt haben (Henoch und Noah – Mose – Baruch, Daniel und Esra). Insofern konnten sie für die aktuelle Bewältigung des durch die Tempelzerstörung im Jahre 70 vollzogenen Bruchs eine vorbildliche Bedeutung haben. Hogan übernimmt in diesem Zusammenhang die von H. Najman (Seconding Sinai [2003], 1–40) vertretene These, die Personennamen in den apokalyptischen und verwandten frühjüdischen Texten seien nicht als Verfassernamen gemeint gewesen (61–83). E. Tigchelaar (Katholische Universität Leuven) bezieht in seine Überlegungen zur Pseudepigraphie in Qumran auch das Phänomen der »Rewritten Scripture« ein und äußert ebenfalls Sympathie für Najmans These (85–101) – die m. E. allerdings nicht frei von Schwierigkeiten ist (vgl. ThLZ 129 [2004], 766–767).
Eine Beziehung zu der von Neutestamentlern wie D. Meade (und R. Bauck­ham) vertretenen These, die neutestamentlichen Pseudepigraphen seien aufgrund ihres frühjüdischen bzw. apokalyptischen literarischen Hintergrunds als täuschungsfreie Fiktionen anzusehen, wird in diesem ersten Hauptteil nicht hergestellt. In späteren Beiträgen wird Meades Ansatz (Pseudonymity and Canon [1986]) allerdings als konservative Apologetik abgelehnt (Gamble, 358–359) bzw. als Ergebnis des Bemühens, die moralische Autorität neutestamentlicher Pseudepigraphen zu wahren, eingestuft (Jackson-McCabe, 604–605). Und sowohl Meades These, der Name »Petrus« sei im 2Petr nicht als Verfassername gemeint gewesen, als auch Bauckhams Annahme, der Name »Petrus« sei im 2Petr als transparente Fiktion verwendet worden, werden als untaugliche Versuche zur Rettung des 2Petr vor der Etikettierung als literarische Fälschung abgelehnt (Frey, 729–730).
Ein zweiter, etwas ausführlicherer Hauptteil ist griechisch-römischen Kon­texten gewidmet (105–330). W. Speyer stellt antike Verfasser vor, die sich für Sprachrohre einer Gottheit hielten (mythische Verfasserschaft) und daher nicht selbst als Schöpfer ihrer Werke gelten wollten. In diesem Zusammenhang wiederholt er seine These, bei den frühjüdischen Apokalypsen handle es sich um echte religiöse und daher täuschungsfreie Pseudepigraphie (105–124). M. Janssen hat bekannte und weniger bekannte antike Aussagen über die Beweggründe der Verfasser pseudepigrapher Schriften zusammengetragen und ausgewertet. Sie arbeitet u. a. heraus, dass die sog. Schulpseudepigraphie nur dann als täuschungsfrei galt, wenn bestimmte Regeln eingehalten wurden (125–179). M. Frenschkowski stellt fest, dass Pseudepigraphen von früh­-christlichen Lesern häufig nicht als solche erkannt wurden und die früh-christliche Echtheitskritik in vorkritischer Weise primär Häretisches als pseudepigraph einstufte. Frühchristliche Pseudepigraphen seien von ihren Autoren jedoch in der Regel nicht als durchschaubare Fiktionen verfasst worden. Und sofern sie von ihren Lesern erkannt wurde, sei Pseudepigraphie keinesfalls problemlos akzeptiert worden (181–232).
K. Luchner befasst sich mit der Frage, ob sich einige der rund 25 antiken Sammlungen von Briefen berühmter Politiker und Intellektueller als Briefromane deuten lassen. Im Gegensatz zu Richard Bentley, der vor 300 Jahren die von ihm als pseudepigraph eingestuften Briefe berühmter Männer als literarische Fälschungen bewertete, hält Luchner es für unmöglich zu entscheiden, ob die pseudepigraphen Briefe des Hippokrates, des Sokrates oder des Pythagoras mit oder ohne Täuschungsabsicht verfasst wurden (233–266). T. Glaser deutet die Pastoralbriefe auf dem Hintergrund pseudepigrapher Briefbücher als Paulusbriefroman. Er scheint eher anzunehmen, dass die antiken Verfasser pseudepigrapher Briefe ihren Lesern Authentizität vortäuschen wollten (276–294).
An dieser Stelle wäre eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten von L. R. Donelson und T. L. Wilder interessant gewesen. Donelson (Pseudepigraphy and Ethical Argument [1986], 7–66) schreibt den pseudepigraphen Briefen antiker Philosophen und den Pastoralbriefen eine Täuschungsintention zu. Und Wilder (Pseudonymity, the New Testament, and Deception [2004], 75–121) erkennt lediglich in einem Teil der pseudepigraphen Philosophenbriefe eine Täuschungsabsicht. Er meint daher, in diesem Segment der antiken Literatur eine Konvention gefunden zu haben, die das täuschungsfreie Abfassen pseudepigrapher Briefe vorsah – m. E. ohne dies ausreichend zu belegen (vgl. ThLZ 132 [2007], 1208–1210).
R. M. Calhoun (University of Chicago) präsentiert einen bereits von Speyer (1971) erwähnten Brief eines Mithridates, in dem dieser – einleitend zu einer Sammlung von Brutusbriefen – bekennt, die Antwortschreiben zu diesen Briefen als rhetorische Übungen frei erfunden zu haben. Mithridates gibt an, er habe die historischen Umstände der fiktiven Briefverfasser erforscht und die Briefe des Brutus als Stilvorlage benutzt. Die Bedeutung dieses Textes besteht darin, dass er eine der wenigen Selbstaussagen antiker Autoren über täuschungsfreie Pseudepigraphie darstellt. Im Unterschied zu Mithridates lag den Verfassern von Eph, Kol und 2Thess Calhoun zufolge jedoch daran, ihre Leser über die Herkunft ihrer Texte zu täuschen (295–330).
Der dritte und bei Weitem umfangreichste Hauptteil ist frühchristlichen Kontexten neutestamentlicher Pseudepigraphie gewidmet (333–785). Die Mehrzahl der hier eingeordneten Beiträge befasst sich mit der literarischen Strategie der Verfasser pseudepigrapher neutestamentlicher Briefe: des Eph (M. Hüneburg), des Kol (N. Frank), des 2Thess (E. Krentz und T. Thompson), der Past (J. Herzer), des Hebr (C. K. Rothschild), des Jak (M. Konradt und M. Jack­son-McCabe), des 1 und 2Petr (K. M. Schmidt), des 1Petr (L. Doering), des Jud und 2Petr (J. Frey) und des 1–3Joh (J. Leonhardt-Balzer). Diese Beiträge sind fast ausnahmslos den in der Einleitung von U. Schnelle gefällten Echtheitsurteilen verpflichtet, die mehrfach als weitgehender exegetischer Konsens bezeichnet werden (4.333.791). Eine Ausnahme stellt Herzers Beitrag zu den Pastoralbriefen dar, der diese mehr als einem Verfasser zuweisen will, ohne dass ganz deutlich wird, ob einer dieser Verfasser Paulus selbst gewesen sein soll.
Zweimal wird im Sammelband eine Aussage W. Bauers zitiert, die jeder unterschreiben wird, der sich tiefer in die neutestamentlichen Einleitungsfragen eingearbeitet hat: In Verfasserschaftsfragen fällt »die sichere Entscheidung nur dem Ignoranten leicht« (185 und 493). Angesichts dieser unbestreitbaren Grundeinsicht scheint mir die strenge Anlehnung des Sammelbandes an Schnelles Vorgabe, es gebe im Neuen Testament nur acht literarisch echte Schriften (sieben Paulinen und die Johannesoffenbarung), eine sachlich nicht gerechtfertigte Engführung zu sein. Dass vor noch gar nicht allzu langer Zeit W. G. Kümmel in seiner Einleitung neun der 13 Paulinen als orthonym anerkannt hat, ist aus dem Blick geraten. Und dass die großen wissenschaftlichen Kommentare zu den 21 neutestamentlichen Briefen, in denen die Einleitungsfragen mit der nötigen Gründlichkeit besprochen werden, ein noch wesentlich differenzierteres Bild bieten, spielt in diesem Sammelband keine nennenswerte Rolle. (Ich persönlich bin jedenfalls immer wieder überrascht, als wie vieldeutig und letztlich unzureichend sich die Standardargumente gegen die direkte oder indirekte Authentizität des Kol oder auch des Jud und des 1Petr bei genauer Prüfung erweisen.)
Weiterhin befasst sich in diesem dritten Hauptteil S. Krauter mit der Pseud­epigraphie im Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca (765–785), und E.-M. Becker behandelt die Erforschung der paulinischen Pseudepigraphie als literaturgeschichtliche Aufgabe (363–386). Eingeleitet wird der dritte Hauptteil von einem engagierten Beitrag von H. Y. Gamble (University of Virginia, Charlottesville) zum schwierigen Thema »Pseudonymity and the New Testament Canon« (333–362). Zu Recht stellt er fest, dass literarische Echtheit keineswegs das einzige Kanonkriterium der alten Kirche war. Zu Unrecht schreibt Gamble allerdings mir (und anderen »conservative protestants«) – ohne präzise Seitenangabe – die Forderung zu, »that explicit claims of author­ship by an apostolic figure be taken as factually accurate« (357). Dabei handelt es sich um ein eigenartiges Missverständnis. Korrekt ist dagegen Gambles unmittelbar folgende Angabe, dass eine literarische Fälschung meines Erachtens keinen kanonischen Status haben kann. Dass auch P. Pokorn ý diese These vertrete, dürfte allerdings ebenfalls ein Irrtum sein. Pokorný wehrt sich wie Gamble nachdrücklich dagegen, literarischen Fälschungen ihren kanonischen Rang abzuerkennen.
Auch nach gründlicher Lektüre dieses reichhaltigen Bandes zeichnet sich für die Frage, wie sich Pseudepigraphie und Kanonizität vereinen lassen, keine einfache Lösung ab. Die einzig konsequente Option scheint mir weiterhin darin zu bestehen, literarischen Fälschungen (ähnlich wie den sekundären Textergänzungen in Mk 16 oder Joh 8) allenfalls einen deutero-kanonischen Rang zuzuerkennen (vgl. Pseudepigraphie und literarische Fälschung [2001], 179–191). Für eine im Grundsatz an Luther orientierte Kanontheologie müsste dieser Ansatz akzeptabel sein. Römisch-katholische Exegeten, denen die Kanongrenzen theologisch verbindlich vorgegeben sind, ist dieser Weg zwar versperrt. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass die Christenheit in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz mit einem offenen Kanon und unterschiedlichen sowie sich verschiebenden Kanongrenzen gelebt (und theologisch geurteilt) hat.
Freilich führen derartige Fragen über das eigentliche Arbeitsgebiet des Philologen und Historikers hinaus. Was die literarischen Konventionen in neutestamentlicher Zeit betrifft, dürfte der Sammelband sicher dazu beitragen, die besonders in der deutschsprachigen Exegese noch recht verbreitete Berufung auf eine im We­sentlichen täuschungsfreie antike Pseudepigraphie zu überwinden. Der von Frenschkowski festgestellte Mangel, dass die von mir vorgelegte Quellensammlung zum Thema unvollständig ist (183), wird sich in Zukunft sicher (nicht ausräumen, aber immerhin) reduzieren lassen. Aus der Sekundärliteratur ist jetzt auch die wichtige Arbeit von M. Mülke (Der Autor und sein Text [2008]) zu beachten. Meine wichtigste historische Anfrage betrifft den dritten Weg, der in diesem Sammelband eingeschlagen wird: Spricht die verfügbare historische Evidenz wirklich dafür, dass es in antiken Schulzusammenhängen zulässig war, eigene theologische Gedanken unter dem Namen eines Lehrers zu publizieren bzw. die Gedanken eines Lehrers nach dessen Tod in Briefform zu veröffentlichen (vgl. Pseudepigraphie und literarische Fälschung [2001], 35–39.51–62)? Und lassen die antiken Quellen tatsächlich den Schluss zu, dass nur komplexe Pseudepigraphen, in denen die falsche Verfasserangabe den gesamten Brief durchzieht, als literarische Fälschungen galten, während minimale Pseudepigraphen, denen nur ein unzutreffender Verfassername vorangestellt wurde, als transparente Fiktionen gemeint waren und so verstanden wurden? Derartigen Fragen dürfte in der durch diesen Sammelband angestoßenen Diskussion über einen dritten Weg ein wichtiger Platz zukommen.