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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1098-1100

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dyma, Oliver

Titel/Untertitel:

Die Wallfahrt zum Zweiten Tempel. Untersuchungen zur Entwicklung der Wallfahrtsfeste in vorhasmonä­ischer Zeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIV, 393 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 40. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-149772-8.

Rezensent:

Beate Ego

Diese Promotionsarbeit, die an der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät unter der Betreuung von Herbert Niehr entstanden ist, möchte die Geschichte des Jerusalemer Wallfahrtswesens nachzeichnen. Ausgangspunkt der Überlegungen von Oliver Dyma sind die Überlieferungen im Neuen Testament und bei Josephus, in denen sich ein voll entwickeltes Wallfahrtswesen mit zahlreichen Besuchern u. a. auch aus der Diaspora spiegelt (1–7). Nach einer allgemeinen Klärung der Begriffe »Fest« und »Wallfahrt« (7–14) und einem Abschnitt zu »Wallfahrten im Umfeld« mit Verweis auf Sidon, Amrit, Petra und Sīc (14–19) wendet sich der Vf. der Forschungsgeschichte zu und präsentiert die bislang wichtigsten Arbeiten zur Thematik des Jerusalemer Wallfahrtswesens (vor allem B. Kötting; S. Safrai; M. Knowles u. a.; 20–28). Als weiterführende Fragestellungen ergeben sich aus diesem Überblick, dass erstens die historische Entwicklung, die zu dem »ausgefalteten Wallfahrtswesen hinführt«, bislang noch keiner eingehenden Untersuchung unterzogen wurde. Zweitens ist Voraussetzung für eine Nachzeichnung dieser Entwicklung eine Analyse der Festkalender, wobei man freilich literaturhistorische Entwicklungen nicht a priori als Abbildung historischer Prozesse ansehen kann; drittens besteht ein weiteres Forschungsdesiderat in der Untersuchung der rabbinischen Quellen, die – im Anschluss an die Arbeit S. Safrais – noch auf ihre historische Zuverlässigkeit zu befragen sind. Schließlich ist viertens ein besonderer Fokus auf die Verbindung des Wallfahrtswesens mit Identitätsbildungsprozessen zu legen (28 f.).
Im Zentrum der Arbeit stehen ausführliche Textanalysen zu den normativen Überlieferungen, auf die sich die späteren Texte beziehen (37–87), sowie jener Quellen zur Wallfahrt, die aus der vorhasmonäischen Zeit datieren, nämlich die Chronikbücher (88–198), das Tobitbuch (199–24) sowie die sog. Wallfahrtspsalmen bzw. Ps 42/43 und Ps 84 (246–299).
Die Zentralisierung der Feste, wie sie in Dtn 16 gegeben ist, bildet zunächst eine wichtige Grundlage für die Entstehung eines Wallfahrtswesens, da Dtn damit »die normative Voraussetzung für die Entwicklung zu Wallfahrtsfesten geschaffen« hat. Was freilich noch fehlt, ist die »Festlegung genauer Termine für die Feste« (61). Ex 34,24 – so der Vf. – deute die Vorstellung an, »dass sich ganz Israel an den Festen vor JHWH versammelt«. Da der Vers aber auf entsprechende dtr Passagen bezogen ist, »handelt es sich hier somit nicht um eine alte Wallfahrtsvorstellung« (74).
Die Chronikbücher belegen das Ideal eines vereinten Israel und eine »Offenheit gegenüber den Bewohnern des ehemaligen Nordreiches, die sich auch auf den Kult erstreckt, in dem idealiter das ganze Volk vor JHWH vereint ist« (198). Sekundäre Fortschreibungen, die häufig polemischen Charakter haben, verweisen darauf, dass hier eine ideale Festbeschreibung später aus einer praktisch-konkreten Perspektive überarbeitet wurde: Die wenigen, die an dieser Wallfahrt teilnahmen, entsprachen den Reinheitsvorschriften des Heiligtums nicht und aßen zudem das Passah-Opfer vorschriftswidrig. Mit größeren Gruppen, die von außerhalb zum Jerusalemer Tempel kamen, könne – so der Vf. – nicht gerechnet werden. Diejenigen Israeliten, die im Exil waren, kommen nicht als Teilnehmer des Kultes in Betracht.
Eine weitere Überlieferung aus hellenistischer Zeit, die einer eingehenden Untersuchung unterzogen wird, ist die fiktive Rück­erinnerung Tobits an seine früheren Wallfahrten vom Gebiet Naftalis nach Jerusalem (Tob 1,4–9). Hier werden die Stämme zum Gegenbild zu dem JHWH-treuen Tobit. In engem Bezug zur Wallfahrt steht die Abgabe von Erstlingen und Zehnten, die hier geradezu zum eigentlichen Zweck der Wallfahrt werden. Der Rückgriff auf das Motiv der Wallfahrt dient gleichzeitig dazu, die gute und richtige Lebensweise Tobits exemplarisch vorzuführen. Wenn der Rückblick Tobits auch fiktiv ist und sicherlich keinerlei Anspruch auf Historizität für die Zustände zur Zeit des Protagonisten im 8. Jh. hat, so ist dennoch anzunehmen, dass dieser Text »tatsächliche Gegebenheiten der Zeit der Abfassung widerspiegelt. ... Dass gerade die Wallfahrtsvorschriften für die positive Charakterisierung herangezogen werden, zeigt deutlich, dass sie von entsprechender Bedeutung gewesen sein müssen. Wären sie bedeutungslos gewesen, hätte der Text seine Wirkung verfehlt« (236). Eine Einbeziehung der Diaspora lässt dieser Text – ebenso wenig wie die Chronik – nicht erkennen.
Wie der Vf. zu Recht einräumt, sind die historisch verwertbaren Informationen aus den Psalmen eher gering. Aus den Wallfahrts­psalmen und Korachpsalmen lässt sich zunächst ein religiöses Symbolsystem erheben, für das die Zentralität des Jerusalemer Tempels bestimmend ist. Der Tempel liegt in der Mitte der Welt und stellt einen Ort der Sicherheit dar. In historischer Hinsicht ist hier festzustellen, dass diese Motivik auf eine »existierende Wallfahrtspraxis« schließen lässt, die offensichtlich gemeinschaftlich stattfand (vgl. Ps 122,1 f.; 42,5).
Die Untersuchung wird ergänzt durch ein Kapitel zur Terminologie der Wallfahrt, in dem gezeigt wird, dass die einschlägige Wallfahrtsterminologie mit den Termini גח, הלע und האר (N-Stamm) sich erst in der Spätphase der Textentstehung herausgebildet hat. Die Arbeit schließt mit einer Auswertung und einem Ausblick auf offene Fragen. Als Fazit kann der Vf. festhalten, dass es für die vorexilische Zeit nur sehr wenige und dazuhin sehr un­scharfe Belege für eine Wallfahrt nach Jerusalem gibt. Von entscheidender Bedeutung für das Gesamtbild ist dann 2Makk 1–2, wonach die Juden der ägyptischen Diaspora dazu aufgefordert werden, ein Tempelfest zu begehen. Dies sei – so der Vf. – der erste Beleg dafür, »dass im Zusammenhang mit den Festen der Blick über die Grenzen des alten Israel hinausgeh(e)« (335).
Der Vf. hat eine gründliche und ansprechende Qualifikationsarbeit vorgelegt. Gelegentlich hätte man sich zwar mehr Stringenz und Eindeutigkeit in der Darstellung (vgl. z. B. die umständlichen Ausführungen zu Lev 23; 75–84) sowie eine klarere Formulierung des Fazits der Arbeit gewünscht. Aufgrund der Problematik einer Datierung der Psalmen und einer zeitlichen Verortung der Chronik in die frühhellenistische Zeit bzw. des Tobitbuches in das ausgehende frühe 2. Jh. ist man überrascht, dass der Vf. das Wallfahrtswesen als eine »relativ späte Entwicklung« bezeichnen kann, die »mit den Hasmonäern ihren Anfang nahm« (so 337). Wie ist dies mit den Ausführungen des Vf.s zu Ex 34 zu vereinbaren bzw. mit seiner Aussage, dass sich in der vorexilischen Zeit »nur wenige Belege für eine Wallfahrt nach Jerusalem« finden (336) oder dass die Chronikbücher in der frühhellenistischen Zeit »erste Hinweise auf Wallfahrten« geben? Auch der Blick auf Wallfahrtsfeste in der sog. »Umwelt« ist zwar interessant, trägt aber letztlich nichts für die eigentliche Argumentation aus. Stattdessen stellt sich – wie der Vf. ja selbst am Ende seiner Arbeit andeutet – die weiterführende Frage, wie die Entwicklung des Wallfahrtswesens in der Hasmonäerzeit religionspolitisch und -historisch zu kontextualisieren ist. So bietet diese Dissertation eine wichtige Voraussetzung für weiterführende Arbeiten zum Phänomen der Wallfahrt nach Jerusalem, die ja bis heute – wenn auch in modifizierter Form – eine bedeutende Rolle im religiösen Symbolsystems des Judentums spielt.