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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1096-1098

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dubach, Manuel

Titel/Untertitel:

Trunkenheit im Alten Testament. Begrifflichkeit – Zeugnisse – Wertung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 352 S. m. Abb. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 184. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-17-020765-3.

Rezensent:

Rainer Kessler

Der Begriff der Trunkenheit, den Manuel Dubach als Titel seiner von Walter Dietrich betreuten Berner Dissertation von 2008 wählt, ist im Deutschen schillernd. Wie D. selbst notiert, kommt er gegenwärtig fast nur noch juristisch als »Trunkenheit am Steuer« oder »Trunkenheit im Verkehr« vor. Hier bezeichnet er präzise eine Trunkenheit, die durch das Trinken von Alkohol hervorgerufen wird. Doch D. will seine Untersuchung nicht auf den Alkoholkonsum einschränken. Tatsächlich kennt das Deutsche auch die Vorstellung, dass Menschen von Liebe, Begeisterung oder Freude trunken – in Schillers Ode »An die Freude« gar »feuertrunken« – sind. Und auch im Alten Testament lässt sich beobachten, dass solch übertragener Gebrauch des Phänomens der Trunkenheit möglich ist.
Um das Begriffsfeld und darüber die einschlägigen Texte zu erschließen, setzt D. mit der Wurzel רכשׁ (škr) ein, die als Verb und in verschiedenen Ableitungen als Nomen vorkommt und sich recht genau mit dem deutschen »(be)trunken sein/werden« deckt. Auch der übertragene Gebrauch ist belegt, so wenn es in Hld 5,1 heißt: »Trinkt und seid trunken von Liebe!« Damit ist bereits die zweite Wurzel genannt, die in das Begriffsfeld gehört: »trinken«, hebräisch התשׁ/הקשׁ (šth/šqh). Neben zwei weiteren Verbalwurzeln kommen sodann noch die Nomina ניי (jájin) für »Wein« und שׁורית (tîrôš) für die Weinbeere, metonymisch aber auch für den Wein selbst, in den Blick. Insgesamt erhält D. so ein dichtes Netz von Belegen, die er tabellarisch zusammenstellt (51–53) und die ihn wiederum zu den relevanten Texten führen. Bereits jetzt kann eine erste Bilanz gezogen werden: »Die Trunkenheit ist der Hebräischen Bibel kein fremdes Phänomen. Die Haltung ihr gegenüber ist wohl am ehesten als ambivalent zu charakterisieren« (53).
Vor der weiteren Untersuchung steht der Blick in die Forschung. Auch wenn D. die einschlägigen Studien zur Trunkenheit und zum Alkohol brav in chronologischer Reihenfolge präsentiert, werden die Linien der Interpretation – und indirekt auch schon D.s Deutungspräferenzen – sichtbar. Immer wieder kommen Versuche vor, das Phänomen Alkohol und seine Folge voneinander zu trennen. Dabei wird dann der Wein als ambivalent eingeschätzt, während Trunkenheit nur negativ gewertet wird. Es schimmert durch, dass für D., der einen weiten Begriff von Trunkenheit zugrunde legt, auch Trunkenheit als ambivalent zu werten ist. Sodann referiert D. verschiedene Ansätze, die die Vielfalt der Stimmen im Alten Testament, die den Eindruck der Ambivalenz in der Beurteilung von Alkohol (und Trunkenheit) hervorrufen, erklären wollen. Ein Versuch besteht darin, zwischen »Maß« und »Übermaß« beim Alkoholgenuss eine Grenze zu ziehen. Es ist dies ein Versuch, »die einander scheinbar konkurrierenden Stellen zu harmonisieren und hinter ihnen eine Stimme zu vernehmen« (77). Ihm stehen Ansätze gegenüber, die die Vielfalt der Aussagen chronologisch – in der Frühzeit kritisch, später freizügiger (oder auch umgekehrt) – oder nach der Zugehörigkeit zu verschiedenen literarischen Strömungen erklären. Auch hier lässt D. durchblicken, dass er diese Deutungen für wenig tragfähig hält.
Damit ist der Hauptteil der Arbeit erreicht: »Untersuchung der atl. Zeugnisse über die Trunkenheit« (79). Er nimmt zwei Drittel des Buches ein. Zwei Prinzipien sind für D. leitend, die sich beide positiv auf die Untersuchung auswirken. Das erste formuliert er bereits am Ende der Begriffsuntersuchung, nachdem er diese tabellarisch zusammengefasst hat: »Die aufgelisteten Stellen sind Teile grösserer oder kleinerer Texteinheiten, aus denen sie nicht herausgelöst werden dürfen« (53). D. untersucht also nicht isolierte Begriffe, sondern zusammenhängende Texte. Das zweite Prinzip ist eine Ab­sichtserklärung, deren Relativität D. durchaus bewusst ist: »Es empfiehlt sich …, in einem ersten Schritt vorwiegend deskriptiv vorzugehen und alle präskriptiven Elemente zu vermeiden« (79).
Als »Fragekatalog«, der die folgende Untersuchung gliedert, legt D. vier W-Fragen fest: »1. Wer ist trunken? 2. Was macht trunken? 3. Unter welchen Umständen ereignet sich die Trunkenheit? 4. Wie manifestiert sich die Trunkenheit?« (81).
Für die Ergebnisse dieses detailreichen Durchgangs ist weitgehend auf die Arbeit selbst zu verweisen. Es zeigt sich aber, dass der breite Zugang über das in der Begriffsbestimmung gewonnene Vokabular insofern fruchtbar ist, als so eine Fülle von Phänomenen in den Blick kommt. Zur ersten Frage: Wer ist trunken?: Es sind Menschen, zahlreiche Individuen – von Noah angefangen über die einzige Frau, Hanna, bis zu Kohelet in seiner Königsfiktion. In den Texten erscheinen aber auch bestimmte Typen, der Säufer, dessen Beschreibung erkennen lässt, dass man in Israel das Phänomen des krankhaften Alkoholismus kannte, und die Liebenden, wobei neben dem »reinen Liebesrausch« eine Vermischung von »Erotik und Alkohol« zu beobachten ist (125). Ferner werden soziale Gruppen mit Trunkenheit in Verbindung gebracht: der König und die Oberschicht, Priester und Propheten und die personae miserae. Schließlich werden auch ethnische Gruppen als betrunken charakterisiert, sei es Israel, seien es einzelne oder alle Völker. Dass auch Gottheiten trunken sein können, ist in der antiken Mythologie reichlich belegt. Im Alten Testament schlägt es sich aber nur noch in der Aussage von Ri 9,13 nieder, dass der Wein »Götter und Menschen erfreut«. Ansons-ten ist das Alte Testament bedacht, »eine grösstmögliche Distanz zwischen JHWH und der Trunkenheit zu wahren« (175). Vereinzelt können auch Tiere (Ez 38 f.) und Gegenstände, vor allem Waffen JHWHs, als trunken dargestellt werden. Abschließend wirft D. einen Blick auf die Nasiräer und die Rechabiter, die – aus unterschiedlichen Gründen – Trunkenheit prinzipiell meiden.
Die Antwort auf die Frage, was trunken macht, überrascht nicht. Es sind überwiegend Alkoholika. Doch auch Gift und Blut werden als berauschend dargestellt, wobei hier der Übergang von der realen zur bildlichen Vorstellung fließend ist. Beim Geist JHWHs und der körperlichen Liebe als Auslöser von Rauschzuständen ist dann die Grenze zur Bildsprache überschritten, auch wenn »die Hebräische Bibel die beiden Stimulantia Sexualität und Alkohol in eine enge Beziehung setzt« (215).
Der Umstände, unter welchen sich Trunkenheit ereignet, sind erwartungsgemäß viele. D. zählt die individuelle Muße und gemeinsam begangene Feierlichkeiten auf, darunter Hochzeiten, Volksfeste und die häufig genannten Gelage. Wenn daneben das göttliche Strafgericht als rauschhafter Zustand, ausgelöst durch »ein aus der Hand Gottes entgegenzunehmendes Trinkgefäss« (252), geschildert wird, dann stellt diese Vorstellung »ein atl Proprium« dar (258).
Trunkenheit manifestiert sich vielfältig. Bei einer entsprechend weiten Definition des Begriffes reicht das von Euphorie über Enthemmung und Vergessen bis zu Wahrnehmungsstörungen, Erbrechen und Bewusstlosigkeit. Die Feststellung, dass neben der Euphorie auch die enthemmende Wirkung von Alkohol »nicht negativ gewertet wird« (284), führt direkt zum nächsten Kapitel.
Wie D. schon im Forschungsbericht durchblicken lässt, ist eine diachrone Verschiebung in der Bewertung der Trunkenheit im Alten Testament nicht plausibel zu machen. Auch das Kriterium von »Maß« und »Übermaß« greift nicht. »Ob … Trunkenheit positiv oder negativ gewertet wird, hängt zu einem beachtlichen Teil von sozialethischen Kriterien ab« (285). Deshalb ist die prophetische Kritik »am Rausch der Oberschicht … in erster Linie Sozialkritik«. Aber auch die Kritik am Säufer in der Weisheit beruht darauf, dass er »eine Belastung für die Gesellschaft werden« kann (286). Theologisch gesehen gerät der Rausch in die Kritik, sofern er sich »in einer Verschleierung der Wirklichkeit« manifestiert und so »dem Verhältnis von Gott und Mensch nicht förderlich sein« kann (289). Bei aller Wertschätzung des Alten Testaments für Alkohol und Trunkenheit: »Der Kontakt mit der Sphäre des Göttlichen verlangt nach Nüchternheit« (288).
D.s Buch gibt eine umfassende, tiefgehende und ausgewogene Beschreibung des Phänomens der Trunkenheit. Als Nachschlagewerk wird es für lange Zeit unentbehrlich sein. Da es zugleich mit leichter Feder geschrieben ist, ohne je banal zu werden, ist es aber auch denen als Lesegenuss zu empfehlen, die sich nicht gerade exegetisch mit Wein, Alkohol oder Trunkenheit befassen.