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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1082-1084

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Blenkinsopp, Joseph

Titel/Untertitel:

Judaism: The First Phase. The Place of Ezra and Nehemiah in the Origins of Judaism.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2009. XIV, 262 S. gr.8°. Kart. US$ 30,00. ISBN 978-0-8028-6450-5.

Rezensent:

Thomas Hieke

Der Ursprung des Judentums ist in seiner Komplexität eine spannende Frage. Joseph Blenkinsopp zeichnet ein großes Geschichtsbild mit folgenden grundsätzlichen Fragestellungen (6): Ab wann ist im Nachgang des Untergangs des judäischen Staates und der Deportationen ins Babylonische Exil wieder eine soziale Gruppenidentität greifbar und wie konstituiert sich diese Identität? Ab wann ist es sinnvoll, yehûdîm nicht mehr mit »Judäer«, sondern mit »Juden« zu übersetzen? Wie steht es um den Grad der Kontinuität oder Diskontinuität zwischen dem Status nationaler Identität vor diesem großen Einschnitt und der Zeit danach, in der mehrere un­terscheidbare Gruppen um die Legitimität dieser Identität wetteifern?
In der Einführung (1–11) sortiert B. die Epoche des entstehenden Judentums in den Zusammenhang der antiken Geschichte des Mittelmeerraumes ein. Die politische Seite war von der persischen Oberhoheit dominiert, deren erstes Jahrhundert den Beginn des Judentums markiert. Emblematische Gestalten dieser Zeit sind Esra und Nehemia.
Im ersten Kapitel »Origins« (12–43) reflektiert B. die Diskussion um die Entstehung des Judentums in der Antike. Dabei geht er auf die Terminologie »Judäer« – »Juden« und die Problematik ein, dass es sich sowohl um religiös-kulturelle als auch um geographisch-ethnische Begriffe handelt. Nach der Gola-Perspektive des Esra-Nehemia-Buches besteht das wahre Israel nur aus den in das Babylonische Exil Verschleppten und ihren Nachkommen, die nach dem Exil zurückgekehrt sind.
Unter der Überschrift »Ezra« (44–85) interpretiert B. die Mission Esras (Esra 7–8), die Verkündigung des Gesetzes (Neh 8) und die Mischehen-Krise (Esra 9–10). Ferner beschreibt er das Profil Esras unter Rückgriff auf Esra 7,1–10. Da die Quellenlage schwierig sei, gebe es keine letzte Sicherheit über die Rolle Esras sowie den Ablauf der Ereignisse (z. B. 76). Plausibel erscheint es für B., dass unter dem Perserkönig Artaxerxes I. babylonische Exiljuden unter Führung Esras mit persischer Erlaubnis nach Juda (Jehud) übersiedelten. Dieser Prozess ist eine Kolonisierung, die von der östlichen Diaspora ausging und von den persischen Autoritäten gebilligt wurde (»diaspora in reverse«, 85). Der Kern dieser »Siedler« waren Enthusiasten mit rigoristischer Gesetzesauffassung, die massiv für eine Absonderung der jüdischen Gemeinschaft von der übrigen Welt optierte. Sie werden als diejenigen bezeichnet, die vor dem Wort JHWHs zittern (die »Zitternden«, h.aredîm).
Kapitel 3 befasst sich mit Nehemia (86–116) und seiner sog. »Denkschrift«. Insgesamt sei die Quellenlage bei Nehemia verlässlicher. Nehemia habe das Amt des Provinzstatthalters um 445 v. Chr. angetreten und stehe dabei bereits in einer gewissen Amtsfolge (nach Scheschbazzar und Serubbabel). Er sei als Mitglied der Oberschicht in Babylonien geeignet gewesen, seine wichtigen Aufgaben durchzuführen; er habe aber auch zu der rigoros-legalistischen Richtung gehört, die für Esra und seine Anhänger typisch war. Damit habe er Konflikte mit den lokalen Eliten provoziert (z .B. Neh 13,4–9).
Im nächsten Kapitel (117–159) erforscht B. die Wurzeln der Ideologie, die für Esra und Nehemia ausschlaggebend war. Er analysiert dazu die Diasporasituation der jüdischen Gemeinschaften in Babylonien und die prophetischen Texte, die Entwürfe für die Zukunft formulieren. Die »Agenda« von Esra und Nehemia wurde jeweils aus der Babylonischen Diaspora heraus entwickelt. Die deuteronomistische Gemeindetheologie zur Definition der eigenen Grup-pen­identität war dabei ebenso wichtig wie das Verbot, Mischehen einzugehen. Schließlich sei die Nähe zwischen der Darstellung von Esra und Nehemia und dem visionären Tempelgesetz von Ez 40–48 so groß, dass eine konzeptionelle Abhängigkeit, was Grenzen der Gemeinschaft, Kultausübung und die Schaffung eines theokra­tischen Gemeinwesens betrifft, zu konstatieren sei. Die Trägergruppe dieses Denkens war eine Minderheit, und dazu gehörten auch Esra und die »Zitternden«.
B. zeigt im fünften Kapitel (160–188), wie Esra und Nehemia zu ideologischen Bezugspunkten werden: Das mit ihren Namen verbundene programmatische Denken wirkt in der Geschichte fort. B. geht dabei zunächst auf die Chronikbücher, 3Esra (1Esdras) und Josephus ein. Dann zeigt er die literarische Karriere Nehemias als Vorbild und Held im Buch Jesus Sirach und im zweiten Makkabäerbuch auf. Während in dieser Literatur des Zweiten Tempels Esra keine Erwähnung findet, hat Esra in der frührabbinischen Literatur ein viel höheres Ansehen als Nehemia. Daran anschließend skizziert B. die weitere geschichtliche Entwicklung von der Zeit Nehemias bis zu den Hasmonäern unter der Frage, wie nachhaltig sich das von Esra und Nehemia Erreichte durchhielt.
Im letzten Kapitel befasst sich B. mit der Frage des Sektentums im Frühjudentum: Nach Erwägungen zur Begrifflichkeit und Forschungsgeschichte fragt er nach Aspekten des Sektentums im Esra-Nehemiabuch und verfolgt die Entwicklung über Daniel bis hin zu den frühjüdischen Apokalypsen und der Qumranliteratur.
Seine Schlussfolgerungen fasst B. so zusammen: Der Untergang des judäischen Staates und das Exil führen zur Herausbildung einer Vielfalt von »jüdischen« Zentren und Gruppen mit unterschiedlichen Konzeptionen zur Definition der eigenen Identität. In diesem Konflikt der Meinungen kam ein starker Impuls aus der Babylonischen Diaspora, der eine religiöse Ideologie eines ritualisierten Zusammenlebens propagierte, und als dessen Exponenten Esra und Nehemia gelten. Beide versuchten ihre religiösen Überzeugungen in soziale und politische Realität umzusetzen. Die Ankunft von Esra und Nehemia ist als eine religiöse Kolonisierung anzusehen mit dem Ziel einer rituell reinen Gesellschaft nach der Tempelvision von Ez 40–48. Dieser Impuls setzt sich im Sektentum des Frühjudentums fort. Nehemia als Nicht-Priester wollte wie Esra seine religiöse Ideologie in politische Realität fließen lassen. Seine Bemühungen wurden durch die Makkabäer und Hasmonäer fortgeführt und mündeten in eine Reterritorialisierung des Ju­dentums.
B.s Ansatz eines großen geschichtlichen Bildes wirkt überzeugend. Die Ideologien und Denkansätze, die sich – mehr oder weniger transformiert – durch die Jahrhunderte fortsetzen, werden in großen Namen verkörpert. Somit sind Esra und Nehemia als literarische und geschichtliche Figuren besser greifbar als in ihrem durch die Quellen kaum rekonstruierbaren tatsächlichen Tun. Damit aber stellt B.s Buch nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Auslegung der biblischen Bücher Esra und Nehemia dar, sondern auch eine willkommene Synthese zur Entwicklungsgeschichte des Frühjudentums.