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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1080-1082

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Baumgarten, Albert I.

Titel/Untertitel:

Elias Bickerman as a Historian of the Jews. A Twentieth Century Tale.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. X, 377 S. m. Abb. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 131. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-150171-5.

Rezensent:

Catherine Hezser

Trotz des wissenschaftlichen Anspruchs an die Geschichtsschreibung, möglichst objektiv zu sein, weiß jeder Historiker, dass immer auch die eigene, zeitgenössische Situation und subjektive Einstellungen und Anliegen die jeweilige (Re-)Konstruktion historischer Ereignisse bestimmen. Wie die Lebensumstände des Historikers seine Geschichtsdarstellung beeinflussen, zeigt Albert I. Baumgarten am Beispiel von Elias Bickerman (1897–1981) auf, dessen Student und Mitarbeiter er im letzten Jahrzehnt seines Lebens war. Bickerman gilt als einer der bedeutendsten Historiker des antiken Judentums und ist den meisten von seinen Arbeiten zur Makkabäerzeit ( Die Makkabäer, 1935; Der Gott der Makkabäer, 1937) und zum hellenistischen Judentum (The Jews in the Greek Age, 1988) bekannt. Auf der Basis umfangreichen Archivmaterials zu Bickerman und seinen Kollegen, Schülern und Briefpartnern verfolgt B. dessen Lebensgeschichte und weist Zusammenhänge zwischen Bickermans persönlicher Situation bzw. der Situation der Juden seiner Zeit und seiner Darstellung des Judentums im hellenistischen Zeitalter auf. Das Buch ist entsprechend in drei Teile gegliedert: 1. Bickermans Leben, 2. sein Werk, und 3. Bezüge zwischen den beiden (»A Usable Past«).
B. zufolge ist Bickermans Leben als »a definitive twentieth century Jewish tale« (Hervorhebung durch B.) anzusehen (1), welches die intellektuellen, sozialen und politischen Entwicklungen des 20. Jh.s und die jüdische Erfahrung von Verfolgung, Emigration und Assimilation widerspiegelt. Sein Weg führte ihn vom Russland zur Zeit der russischen Revolution und des beginnenden kommunistischen Regimes zum Berlin der Weimarer Republik und an­schließender Emigration nach Frankreich und den Vereinigten Staaten während der Nazizeit bis zu seinem Tod in Israel Anfang der 80er Jahre. Wie David Daube, Samuel Krauss, Saul Lieberman und Arnoldo Momigliano verband auch Bickerman Fachwissen der klassischen Antike mit seiner Kenntnis der jüdischen Ge­schichte. Er kann deshalb als Mitbegründer desjenigen Forschungszweigs gelten, der das antike Judentum konsequent im Kontext seiner griechisch-römischen Umwelt untersucht und Wechselbeziehungen zwischen den jeweiligen Kulturtraditionen aufzuzeigen sucht.
B. beschäftigt sich nicht in erster Linie mit Bickermans jüdischer Identität, sondern mit Bickerman als »Historiker der Juden« (siehe schon den Titel seines Buches). Nichtsdestoweniger ist der erste Teil seiner Biographie dem Leben Bickermans gewidmet und dient als Basis, Bickermans spezifisches Interesse an antiker jüdischer Geschichte und seine Interpretation derselben besser zu verstehen. Da Bickerman keine Autobiographie geschrieben hat und anordnete, seine persönlichen Dokumente nach seinem Tod zu zerstören, beruht B.s Rekonstruktion auf komplizierten Recherchen und Interviews. Viele Aspekte seines Lebens müssen notwendigerweise im Dunkeln bleiben und haben Anlass zu Phantasien und Vermutungen gegeben. B. enthält dem Leser nicht das Vergnügen zahlreicher Anekdoten vor, die Bickerman als Persönlichkeit lebendig werden lassen. So wurde ihm verweigert, seine Jugendliebe zu heiraten, und die Hürde der Habilitation konnte erst im zweiten Anlauf genommen werden, ein Sachverhalt, dem B. in einem ge­sonderten Kapitel ausführlich nachgeht.
Besonders wichtig für das Verständnis von Bickermans historischer Arbeit ist das Verhältnis zu seinem Vater, Joseph Bickerman, einem russischen Maskil (d. h. Repräsentanten der jüdischen Aufklärung), der die Werte der Rationalität und Modernität verkörperte. Joseph Bickerman sah sich in erster Linie als Russe und glaubte an die vollkommene Integration der Juden in die russische Gesellschaft ihrer Zeit. So war für seine Kinder Bildung in russischer Kultur wichtiger als Kenntnis der jüdischen Geschichte und Tradition. Nach der kommunistischen Machtübernahme und Emigration der Familie nach Berlin bemühte sich Joseph Bickerman, Deutsch zu lernen und sich in die deutsche Kultur einzufügen. Diese Assimilationsbestrebungen finden sich auch in Elias Bickermans späterer Geschichtsschreibung wieder, obwohl er in der Nazizeit erfahren musste, dass sie zum Scheitern verurteilt waren.
Erstaunlich ist Bickermans mangelnde Kenntnis des Hebrä­-ischen, die allerdings im Hinblick auf seine russische Bildung, die das Jüdische vernachlässigte, und sein Selbstverständnis als klassischer Historiker verständlich ist. Trotz seiner Hinwendung zur jüdischen Geschichte, besonders während seines Aufenthalts in Amerika, sah er diese Beschäftigung eher als Hobby an (»a classicist having fun«). Auch konzentrierte er sich hauptsächlich auf griechisch-jüdische Quellen. Als enfant terrible ging es ihm darum, andere Historiker des antiken Judentums zu provozieren und gängige Theorien zu widerlegen. Gerade als jemand, der die jüdischen Texte gewissermaßen von außen betrachtete, gelang es ihm, Aspekte aufzuzeigen und Lösungen zu finden, die den Fachgelehrten nicht offenkundig waren. So betonte er die Verwobenheit der antiken jüdischen und griechisch-römischen Kultur, welche heutzu­tage von Historikern des antiken Judentums bestätigt wird. Als Klassischer Altertumswissenschaftler sah Bickerman den Hellenismus nicht als Bedrohung jüdischer Identität an. Er verstand das antike jüdische Bedürfnis, innerhalb der griechisch-römischen Gesellschaft Autonomie in innerjüdischen Angelegenheiten garantiert zu bekommen, Privilegien, welche im krassen Gegensatz zur Situation der Juden im Russland seiner Kindheit und Jugend und im Nazideutschland seiner Emigrationszeit standen.
Im letzten Teil seines Buches geht B. der Beziehung zwischen Leben und Werk Bickermans nach. Bickermans provokanteste These war die Behauptung der Zusammenarbeit zwischen jüdischen Hellenisten und seleukidischer Herrschaft, die unter Antiochus IV Epiphanes zur Verfolgung des Judentums führte. Bickerman zu­folge waren die extremen Hellenisten, also Assimilationsbefürworter, die eigentlichen Initiatoren von Antiochus’ Dekreten gegen das Judentum. B. glaubt, dass Bickerman von de Tocquevilles Analyse der ideologischen Hintergründe der Französischen Revolution beeinflusst war. Außerdem scheint er die Hellenisten aber mit den Reformjuden des 19. Jh.s identifiziert zu haben, die sich von der nicht-jüdischen Kultur ihrer Zeit und vom christlichen Protestantismus beeinflussen ließen. Entsprechend glaubte Bickerman, dass Menelaus und seine Freunde den Universalismus und Kosmopolitismus als Ideale ansahen und versuchten, sie praktisch umzusetzen. Dieses Bestreben führte sie dazu, die an Torah und Tempel orientierten Traditionen zu hinterfragen und das Judentum zu »reformieren« – »In other words, the nineteenth and twentieth century Jewish debate over reform had a very significant role in shap­ing Bickermans understanding of the extreme Hellenizing reform­ers of the Maccabean era ...« (250).
B.s faszinierende Biographie dieses bedeutenden antiken Historikers sollte sowohl Judaisten als auch antike Historiker, Neutestamentler und Theologen interessieren. Im Anhang an den Text finden sich Fotos, Archivtexte, eine Rede Bickermans, eine ausführ­liche Bibliographie seiner Schriften und der Sekundärliteratur so­wie Quellen-, Namen- und Sachverzeichnisse.