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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1079-1080

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Steinacker, Peter

Titel/Untertitel:

Richard Wagner und die Religion.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008. 156 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-534-21438-9.

Rezensent:

Hans Hübner

Der Titel, unter dem Peter Steinacker, ehemaliger Kirchenpräsident von Hessen-Nassau, sein Buch publizierte, könnte suggerieren, er wolle systematisch-theologisch Wagners Konzeption der Religion darlegen. In diesem Buch finden sich aber zu verschiedenen Zeiten erschienene Einzelstudien, die sich inhaltlich überschneiden. Da­her hier nur die Rezension derjenigen Studie, die sein Wagner-Bild besonders gut erkennen lässt: Eros und Religion in Wagners »Tannhäuser«. Darin auch Wagners zentrale Themen: Erlösungsbedürftigkeit, Liebe als Erlösung.
St. bringt keine Inhaltsangabe des »Tannhäuser«. Er setzt die Kenntnis von dessen Inhalt voraus. Ausgehend von der dreigeteilten Ouvertüre deutet er die Verschränkung Eros/»Tannhäuser« vom konflikthaften Gegenüber Eros/Religion her. Im ersten Teil der Ouvertüre repräsentieren die Pilgerchöre die Religion der Wartburgwelt, im zweiten Teil hört man Venusbergmusik; Bacchantinnen reißen Tannhäuser in die heißen Liebesarme der Göttin, also ins Reich des Nichtmehrseins. Im dritten Teil umschlingen sich Geist und Sinn zum »heilig einen Kusse der Liebe«. Zwei Liebespaare veranschaulichen das Thema solcher Liebe: Tannhäuser und Venus, dann Elisabeth und Tannhäuser. Und Tannhäuser ist es nun, dessen Gegenwart in Elisabeth nie empfundene Gefühle und unbekannte Wonnen hervorruft.
Des Landgrafen Frage eröffnet den Sängerstreit: Könnt ihr der Liebe Wesen mir ergründen und das Gesamtkonzept des Lebens? Drei Modelle zeigen die Realität des Liebe: zunächst die Wartburgwelt mit ihren Repräsentanten, der bizarren Truppe der Minnesänger zusammen mit dem bigotten Landgrafen, auch mit Wolfram von Eschenbach, Tannhäusers Freund, in dessen Augen aber sein Feind. Denn dieser vertritt eine für Tannhäuser unakzeptierbare Wirklichkeit, nämlich die Diffamierung der Sexualität. St. und andere vermuten, Tannhäuser habe vor seinem ersten Besuch der Venus den Sängerkreis verlassen, weil er schon damals dessen Sexualauffassung ablehnte. Deshalb habe es ihn in die Venus-Welt ge­trieben. Hier meldet sich freilich die Frage: Lässt sich Tannhäuser nach seinem möglicherweise erneuten Weggang von Venus nur deshalb wieder auf die Wartburg einladen, weil man ihn bittet: »Bleib bei Elisabeth!«? Die beiden lieben sich bekanntlich. Und so beginnt der zweite Akt mit der gegenseitigen Versicherung ihrer Liebe.
Wolfram ist der erste Sänger: Sein Lied atmet religiösen Geist. Er blickt auf zu einem Stern, zur Venus nämlich, die ihn die Vision eines Wunderbronnens erleben lässt. Für St. ist es Tizians bekanntes Bild »Himmlische und irdische Liebe«. Die nackte Frau als die überlegene himmlische Liebe, die bekleidete als die irdische. Diese von Edgar Wind übernommene Hypothese ist wohl. fraglich. Gleiches gilt m. E. auch von Botticellis Gemälde »La Primavera« (»Der Frühling«). Wolfram will den Bronnen nimmer trüben, will nicht den Quell mit frevlem Mut berühren. Also kein sexueller Kontakt! Gemeint ist wohl: kein sexueller Kontakt außerhalb der Ehe. Der empörte Tannhäuser will aber trotzig aus diesem Quell trinken, Elisabeth will ihm Beifall bezeugen. Sie hält sich aber zurück, weil die anderen schweigen. Tannhäuser bringt nun alle gegen sich auf, weil er sie, die der Liebe Unkundige nämlich, erregt zum Besuch der Venus auffordert! Als man ihn deshalb töten will, verhindert dies Elisabeth: Ihr dürft ihm nicht die Möglichkeit zur Buße nehmen! Sie bewirkt sein Pilgern nach Rom, damit er den Papst um Vergebung bitte. St. interpretiert: Tannhäusers Aufforderung zum Be­such der Venus sei entgleiste Erotik. Der Autor, also Wagner, sehe die Venuswelt vor deren »Skandalisierung« als Einheit von Erotik und Religion und einer Form sinnlichen Begehrens, welche die Sexualität zur Erotik als Kulturform steigere. Ausgerechnet Venus also als Modell für eine religiöse Utopie der Liebe und des richtigen Lebens!
Es ist zu begrüßen, dass St. die mittelalterliche, von Heinrich Holze u. a. vermittelte Tannhäuser-Überlieferung nachdrücklich herausstellt, nämlich, dass sich Wagner diesen Stoff, gerade auch den über den Sängerkrieg, durch sein intensives Quellenstudium erarbeitet hat. Es ist hier nicht möglich, das ganze Problem von Wagners Umgang mit der Erotik und Religionsproblematik, von ihm so ausführlich bedacht, zu kommentieren. Um ihm aber in aller Kürze gerecht zu werden, nur dies zusammenfassend: Wolfram will Tannhäuser von seinem Plan der Rückkehr zur Venus abbringen. Er informiert den von Rom Heimkehrenden von Elisa­beths Sühnetod für ihn. Elisabeths Bahre wird vorbeigetragen. Erschüttert bittet Tannhäuser: »Heilige Elisabeth, bitte für mich!« Auch er stirbt nun. Ein Wunder signalisiert (auch dem Papst?) aber die Vergebung für Tannhäuser durch Gott.
Auffällig ist die geradezu totale Verwandlung Elisabeths von der verliebten jungen Frau zur opferfähigen und hingabebereiten Asketin. Man mag fragen, ob dieses Gesamtgeschehen im Rahmen des Ganzen der Oper stimmig ist. Deren Gesamtkonzeption sollte noch einmal gründlich diskutiert werden. Dies zu fordern, ist zugleich der Dank für die Leistung St.s – auch und gerade, wenn sie uns zur Kritik provoziert.