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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1075-1077

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hutter, Manfred

Titel/Untertitel:

Handbuch Bahā’ī. Geschichte – Theologie – Gesellschaftsbezug.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 230 S. gr.8°. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-17-019421-2.

Rezensent:

Ulrich Dehn

Die Religionsgemeinschaft der Bahā’ī stand lange im Ruf des Sektierertums, solange ihre Quellen noch nicht in westlichen Sprachen zur Verfügung standen und wenig Möglichkeit zur Erforschung bestand. Die Informationslage hat sich geändert, seitdem das Kitāb-i Aqdas, das wichtigste heilige Buch der Bahā’ī aus der Hand Baha’u’llahs, 1992 auf Englisch und 2000 auch auf Deutsch veröffentlicht wurde. Manfred Hutter selbst war der Erste, der 1994 eine umfassendere Darstellung dieser im deutschsprachigen Raum damals noch weithin unbekannten Religionsgemeinschaft veröffentlichte, mit der er nicht zuletzt ein Bild korrigierte, das 1981 durch eine Veröffentlichung des Bahā’ī-Aussteigers Francesco Ficicchia kolportiert worden war.
Sein neues Buch, das auf intensiven Quellenrecherchen wie auch auf offenkundig gutem Zugang zu Innenansichten der Ba­hā’ī-Ge­meinschaft beruht, geht zunächst historisch vor: Von der Einbettung in den schiitischen Islam im Iran des 19. Jh.s und der Vorgängerreligion Babismus ausgehend, bietet er eine knappe und zugleich detailreiche und den neuesten Forschungsstand reflektierende Darstellung der komplizierten Entwicklungen um die Halbbrüder Baha’u’llah und Subh-i Azal, die nach der Stiftung des Babismus 1848 zur Konstituierung der neuen Religionsgemeinschaft im Jahre 1863 führten. Auch der nächste Generationenwechsel war von Kontrover sen und Exilierungen begleitet, die von H. mit großer Kenntnis nachgezeichnet werden. Das internationalisierende Wirken Shoghi Effendis, der die Bahā’ī-Gemeinschaft von 1921 bis 1957 leitete, würdigt H., ohne Partei zu ergreifen in der Auseinandersetzung um die Echtheit des Testaments Abdu’l-Bahas, in welchem dieser seinen Enkel Shoghi Effendi zu seinem alleinigen Nachfolger einsetzte. Der Bedeutung Israels als Heimat der beiden wichtigsten Wallfahrtsstätten der Bahā’ī wie auch der alarmierenden Situation der Bahā’ī im Iran, wo seit 1983 alle ihre Einrichtungen verboten sind, widmet H. ein ausführliches Kapitel. Seit 1905 sind die Bahā’ī dank der Missionsarbeit des Deutschamerikaners Edwin Fischer im Raum Stuttgart präsent, aber auch die Präsenz der Bahā’ī im sonstigen deutschsprachigen Raum wird historisch rekapituliert und bis hin zur Thematik ihres rechtlichen Status traktiert.
Bei der Behandlung von »Religion und Theologie« setzt H. bei einer Sichtung der Schriften des Bab und Baha’u’llahs an, die text­-his­torisch arbeitet und die Schaffensperioden berücksichtigt, um dann zu einer inhaltlichen Einordnung vorzudringen. Wichtig sind dabei das Stichwort der Einheit, das sich durch das Denken der Bahā’ī und ihrer einzelnen theologischen Autoren zieht (in Deutschland insbesondere Udo Schaefer) und auch Auswirkungen auf ihr gesellschaftspolitisches Engagement hat (Einheit der Menschheit), sowie das der fortschreitenden Offenbarung, das den Bahā’ī eine Einordnung auch der anderen vergleichbaren Religionen in einen offenbarungsgeschichtlichen Rahmen erlaubt und zugleich eine religionstheologische Struktur bietet. Wünschenswert sei es für Bahā’ī, dass andersreligiöse Gesprächspartner durch sie Gott (im theologischen Verständnis der Bahā’ī) kennen lernen.
H. würdigt in diesem Zusammenhang ein Schreiben des Universalen Hauses der Gerechtigkeit »an die religiösen Führer der Welt« von 2002, das die Hand zum interreligiösen Dialog reicht (123 f.), dem die Teilnahme von Bahā’ī am »Parlament der Weltreligionen« in Kapstadt 1999 vorausgegangen sei. Ausführungen zum Kalender und zur religiösen Praxis der Bahā’ī, deren Ähnlichkeit wie auch Unterschiede gegenüber der islamischen H. herausarbeitet, folgen im Detail recherchierte Ausführungen zu den Organen der Bahā’ī in ihrer Geschichte, insbesondere die Ausgestaltung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Im Zusammenhang der Kontroversen um den mutmaßlichen theokratischen Weltherrschaftsanspruch der Religionsgemeinschaft sind die diesbezüglichen Ausführungen von besonderem Interesse: Baha’u’llahs »Sendschreiben an die Könige« drücke den Wunsch aus, dass Könige sich der Herrschaft Gottes nach dem Verständnis der Bahā’ī unterordnen mögen. Die Abwendung Baha’u’llahs vom Dschihad und die Weiterentwicklung der Lehre im Sinne sozial gerechter Herrschaft und Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz (Abdu’l-Baha) habe dazu geführt, dass »Bahā’ī zur Entstehung von konstitutionellen und demokratischen Bewegungen im Vorderen Orient im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen wichtigen Beitrag geliefert haben«. Ihr Politikverständnis impliziere »die Legitimität eines säkularen Staates«, dies im Unterschied zur schiitischen Staatsideologie im Iran des 19. Jh.s (184). Das Buch endet mit einer Auslotung der Bezugnahme auf die Bibel und zum Thema der »abrahamitischen« Religionen, Aspekte, die eine wichtige Rolle im Zusammenhang des im Verhältnis zu ihrer Quantität überproportionalen Engagements im interreligiösen Dialog spielen.
H.s Buch zeichnet sich durch eine gekonnte Gratwanderung zwischen religionswissenschaftlicher Distanz und teilnehmender Nähe aus, wobei er sich in der Darstellung nie von Letzterer vereinnahmen lässt, sondern treu entlang den Quellen berichtet. Die umfassende Behandlung der wichtigen Themen (mit einer Tendenz zum historischen Zugang) rechtfertigt den Titel »Handbuch«, und auch Christen, die nach Anschlusspunkten für den Dialog mit den Bahā’ī suchen, kommen hier auf ihre Kosten. Die Maßstäbe für die Beschäftigung mit den Bahā’ī im deutschsprachigen Raum sind neu gesetzt.