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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1073-1075

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fischer, Karsten

Titel/Untertitel:

Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat.

Verlag:

Berlin: Berlin University Press 2009. 272 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-940432-65-0.

Rezensent:

Edmund Arens

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Nolte, Paul: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat? Berlin: Berlin University Press 2009. 136 S. 8° = Berliner Reden zur Religionspolitik. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-940432-64-3.


Das umstrittene Verhältnis von Politik und Religion steht im Fokus zweier Bücher, in denen Berliner Wissenschaftler beträchtlich divergierende Rekonstruktionen der Säkularisierung vornehmen bzw. religionspolitische Perspektiven postsäkularer Gesellschaft eröffnen. Während der Politologe Fischer darauf bedacht ist, die Geltungsansprüche von Religion vom liberalen Verfassungsstaat her zu begrenzen, entfaltet der Historiker Nolte die bürgergesellschaftlichen Ressourcen und Potentiale der Religion und macht sich für einen religionsfreundlichen Staat stark.
Fischers thematisch etwas heterogener Sammelband beginnt mit einer Darlegung der Ursprünge und Probleme des liberalen Staates von Bodins Souveränitätskonzept bis zu Böckenfördes Paradox. Allein im liberal-demokratischen Verfassungsstaat, welcher die Religion zur Privatsache erklärt, erkennt er einen Garanten gegen theokratische Tendenzen einerseits und totalitäre Politische Religion andererseits. Während Liberalität eine Zumutung vor allem für monotheistische Offenbarungsreligionen bleibe und die Unterscheidung zwischen Politik und Religion eine Provokation für religiöse Überzeugungen sei, bedürfe der liberale Staat der Entwicklung religiöser Liberalität. Stellt für Fischer jegliche demokratische Politik einen Akt der Säkularisierung dar, so gelte es von religiöser Seite anzuerkennen, dass der Säkularisierungsprozess auch der Religion Autonomie und damit einen Freiheitsgewinn beschere. Im liberalen Modell sieht er Politik und Religion »geradezu schicksalhaft ineinander verstrickt« (40); werden sie kurzgeschlossen, entstehen religionspolitische Pathologien. Zu diesen zählt Fischer den Fundamentalismus, den er als eine sich radikalisierende religionspolitische Reaktion auf Modernisierungsprozesse versteht, in welcher eine apokalyptische Aufladung religiöser Offenbarung mit einer Politisierung der Apokalyptik einhergehe. Den islamischen Fundamentalismus kennzeichnet er, mit seiner vorherigen Definition wenig konsistent, als ein Elitenprojekt okzidentalistisch inspirierter Identitätspolitik.
In dem Theologen E. Troeltsch, welcher den liberalen Individualismus als Quelle und Lösung der sozial-moralischen Probleme der Moderne identifiziere und Religion und Politik als ein ebenso unentbehrliches wie schwer erträgliches Verhältnis zweier Souveränitäten markiert habe, erkennt Fischer einen dem »Geist« des Liberalismus verpflichteten Gewährsmann, dessen Ansatz er als komplementär zum Böckenförde-Theorem begreift. Der rigoros an­tiliberalen, von einem totalitarianism of fear (168) bestimmten Religionspolitik C. Schmitts konfrontiert Fischer die zwar von einem »Absolutismus aus Furcht« (164) geprägte, doch in puncto religiöser Freiheit liberale, radikal skeptische religionspolitische Konzeption von Hobbes. Da in multireligiösen Gesellschaften eine politisch-theologische Integration ebenso unrealistisch wie indis­kutabel sei, biete sich die liberale Privatisierungsstrategie an.
Habermas’ »postsäkulare Gesellschaft« erscheint Fischer als in weltgesellschaftlichem Ausmaß evident. Er diagnostiziert bei je­nem eine Verbindung zwischen postsäkularer Gesellschafts- und deliberativer Religionstheorie, in deren Zentrum das Übersetzungskonzept stehe. Weil die Religionen für Habermas zur Ge­schichte der Vernunft gehören, müsse dieser die liberale Position einer strikten Trennung zwischen privaten religiösen Überzeugungen und öffentlichen Diskursen relativieren. Freilich hält Fischer dessen Insistieren auf dem produktiven politischen Gehalt religiöser Überzeugungen für undifferenziert und problematisch. Die Privatisierung und Verinnerlichung religiöser Überzeugungen erweise sich gegen Habermas’ Befürchtung gerade als Bedingung religiöser Liberalität.
Nolte legt in seinem schmalen Band ein eloquentes Plädoyer für die öffentliche, soziale und politische Bedeutung von Religion vor. Auch er rekurriert zustimmend auf den Begriff der postsäkularen Gesellschaft, die er als postindividualistisch begreift. Religion bildet ihm zufolge sowohl als Reflexion auf Transzendenz als auch als Vergemeinschaftung eine elementare Ressource der Bürgergesellschaft. Er konstatiert eine Rückkehr der Religion, insofern diese im öffentlichen Raum sprechfähig geworden sei. In der postklassischen Moderne macht er nach dem Ende des Zeitalters der politischen Ersatzreligionen neue Möglichkeitsräume von Religion inklusive politischer aus, wobei er freilich den Fundamentalismus außer Acht lässt. Während den diversen Formen radikal privatisierter Ersatzreligiosität Gemeinschaftsfähigkeit wie Sprachfähigkeit fehlten, erkennt er neben diesen beiden als Leistung von Religion in modernen Gesellschaften »ihre Fähigkeit, intersubjektive Verständigung über Grundfragen der Moral und des menschlichen Zusammenlebens zu betreiben« (54). Moderne Religion sei zwar zur ihr lästigen Selbstlimitierung verpflichtet, behalte aber ihren Anspruch auf Grenzüberschreitung und Intervention in die öffentliche Sphäre.
Gegenüber der Rede von der Zivilgesellschaft als eigener Sphäre in Abgrenzung zu Staat und Markt gibt Nolte dem Begriff der Bürgergesellschaft den Vorzug, rücke dieser doch die handelnden Subjekte ins Zentrum. Zur Bürgergesellschaft gehören laut Nolte Freiheit und Gleichheit, realisiert in sozialen Gemeinschaften als »intermediäre Institutionen« (R. Lepsius), in denen sozialmoralische Verpflichtungen eingegangen werden, womit zugleich »Ligaturen« (R. Dahrendorf) geschaffen werden, die Nolte anders als Dahrendorf nicht als notwendige traditionelle Relikte, sondern als spezifisch moderne Bindungen auffasst. Mit Blick auf die Bürgergesellschaft stellt Nolte sodann acht »Dimensionen religiöser Ressourcen« (84) heraus. Jene sei erstens auf Akteure mit aktivistischer Lebensführung und Empathiefähigkeit angewiesen; solche Handlungsorientierungen würden von Religion generiert. Zweitens böten religiöse Traditionen und Institutionen Modelle zur Bildung und Förderung zum einen enger sozialer Beziehung und zum anderen universaler Gemeinschaft und Solidarität. Drittens gehe es in Religionen um weit über die Gemeinde hinausreichende soziale Netzwerke, Infrastrukturen und Engagement. Viertens hätten religiöse Netzwerke konkrete örtliche Bezugspunkte; Religion öffne Räume »nicht nur für den Gottesdienst, sondern auch für die Konstituierung und Kommunikation der Bürgergesellschaft« (95). Religion, jedenfalls eine diskursfähige, stelle fünftens der Bürgergesellschaft eine Sprache zur Verständigung über grundlegende gesellschaftlich-mora­lische Fragen zur Verfügung. Sie liefere sechstens materielle und immaterielle Ressourcen für eine von langfristigen Investitionen von Zeit und Geld abhängige, »investive Gesellschaft«. Siebentens setze Religion der ausgreifenden Ökonomisierung und Bürokratisierung eine lebensweltliche Widerständigkeit entgegen und erweise sich damit achtens als Katalysator zur Mobilisierung und Artikulation von Dissens und Dissidenz.
Ein demokratischer Staat ist laut Nolte in der Lage, die Bürgergesellschaft als Verhandlungs- bzw. Projektpartner zu akzeptieren und zu deren Sponsor zu werden. Insofern er die Leistungen der Religion für die Bürgergesellschaft anerkenne, werde er nicht nur ein religionsbewusster Staat, sondern könne als religionsfreundlicher Staat agieren, der eine »fördernde Neutralität« gegenüber der Religion praktiziere.