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Ausgabe:

Oktober/2010

Spalte:

1071-1073

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bees, Robert

Titel/Untertitel:

Aischylos. Interpretationen zum Verständnis seiner Theologie.

Verlag:

München: Beck 2009. 320 S. gr.8° = Zetemata, 133. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-406-58804-4.

Rezensent:

Manfred Lossau

B. behandelt nacheinander drei Aischylosfragmente (281a; 70; 154a Radt), anschließend die sechs Tragödien Perser, Sieben gegen Theben, Hiketiden, die trilogische Orestie; am Ende und in einem eigenen Teil abgesondert den Prometheus Desmotes (im Folgenden: P. D.). Diese Einteilung offenbart das theologische Aischylos-Verständnis des Autors, das in den Titeln der beiden Teile verdeutlicht wird: »I. Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Aischylos« (25–259); »II. Die Ungerechtigkeit des Zeus im P. D.« (260–309). Das dem Aischylos im Zuge eines nun über 120 Jahre währenden und neuerdings wieder heftig aufgeflammten Philologenstreits um die Echtheit von B. energisch aberkannte Drama erfährt mit insgesamt 57 Seiten eine beträchtlich längere Behandlung als eines der sechs ›echten‹ anderen. Dieses Verhältnis erklärt sich durch B.s Arbeitshypothese, wonach ein Fortschritt in der Erkenntnis aischyleischer Zeus-»Theologie« nur dann erzielt werden kann, »wenn der P. D. gesondert von den anderen Dramen behandelt wird« (11).
B. bekennt sich sogleich dazu, vermeintlich »anachronistisch« vorzugehen (9), indem er, und zwar insbesondere entgegen der anglophonen Aischylos-Philologie und deren Nachwirkungen, wieder konsequent eine Theologie des Autors behauptet. Im Mittelpunkt der aischyleischen Dramen stehe ein Thema: »Das gerechte Wirken des Zeus« (17). Dasselbe herauszuarbeiten, legt er seine »Interpretationen« der sieben überlieferten Stücke vor, die sich als eine »fortlaufende Kommentierung« darbieten (1l).
Die Perser sind in mancherlei Hinsicht geeignet, den Zugang zu einer einschlägigen Grundüberzeugung des athenischen Dichters zu eröffnen. Sie sind, 472 aufgeführt, die früheste der überlieferten Tragödien, sie sind ein dichterisches Monument des Sieges der Griechen a. 480/79, Aischylos selber war Marathonkämpfer – und er lässt den Chor der Perser Zeus anrufen (v. 532), den »gerechten« Gott der Griechen, des Aischylos. – Die »theologische Deutung« (46), die Aischylos dem Sieg der Griechen gebe, bestehe darin, dass die Niederlage der Perser als Zeus’ Strafe erscheine. Das ist unbestreitbar. Wissenswert sind das strafwürdige Vergehen und die Inszenierung dieser Strafe. B. hält dafür, Xerxes’ Unternehmen widerspreche der Welt natürlicher »Ordnung, die Zeus geschaffen hat« (54), indem es »die gottgegebene Grenze zwischen den Erdteilen« missachte (48). Und die Machination der Gottheit bestehe in dem »listensinnenden Trug« (v. 93), durch den die Perser, seit je siegreiche Landmacht, zur Schifffahrt, also auch zum Seekrieg verführt worden seien (49 f.).
Beide Momente passen wenig glücklich zusammen, denn die »missachtende« Brücke über den Hellespont diente der persischen Landstreitmacht, der »gottgesandte Trug« nur dem Seeabenteuer. Wie auch jene zeusgegebene Grenze zwischen den Kontinenten unnötig hoch gegriffen ist, ein Nachweis für eine solche im Aischylos fehlt. Es genügte, die Diagnose des Dareios zu bemühen, der im Kummer über den Sohn Xerxes erklärt, ein großer Daimon habe diesem den guten Sinn geraubt (v. 725) und der Gott fasse mit an, »wenn sich einer selbst beeifert« (v. 742, vgl. B., 66). Und ebendarauf, auf das blanke Unmaß, zielt jener »listensinnende Trug«, denn »sie«, die Perser, das Volk doch, »lernten«, aufs Meer hinauszufahren, wohlgemerkt: »in ungestümem Geist« (v. 110) und gerade der Gottheit entgegen (v. 101 f.). Da liegt es näher, den Trug mit dem trugstiftenden Rachedaimon zu verbinden, der die Perser dann mittels eines Griechen bei Salamis verblendete (v. 353 ff.). – Das Verlassen des ihm persönlich gesetzten Maßes wird den Einzelnen immer wieder zuschanden werden lassen.
Natürlich erkennt B., fast im Sinne einer Theodizee, auch im Trug das Wirken des »gerechten« Zeus.
Der Agamemnon, das erste Stück der einzigen aus der Antike erhaltenen Trilogie, der Orestie, die zugleich, aufgeführt 458, das letzte der überlieferten Werke des Aischylos ist, verheißt eben durch seine trilogische Bindung und als Werk der Reife endgültige Einsicht in Aischylos’ Theologie, wie denn B. die Orestie »auch in dieser Hinsicht als Höhepunkt« aischyleischen Schaffens sieht. Endgültig »die Gerechtigkeit des Zeus zu demonstrieren« (157), ist hier angezeigt. Seit je lautet die Frage: Ist die Schlachtung der Tochter Iphigenie zu rechtfertigen? Ist es gerecht, dass der Oberfeldherr, damit die Strafe für die Verletzung des Gastrechts, also dessen Hüters Zeus, ermöglicht werde, seine Tochter opfert?
Nach dem für Troja verhängnisvollen Seherspruch und nach dem berühmten Zeushymnos referiert der Chor Agamemnons Verzweiflung: Ein schwerlastendes Verderben (bareia ker) sei es, dem Adlerflug nicht zu folgen, doch gleichschwer, das Kind zu opfern. »Was von diesen beiden ist ohne Übel?« (v. 205–211). Zwar beruft sich der König, zum Opfer bereit, hochanspruchsvoll auf die Legitimation, es sei themis (Recht im Sinne von göttlicher Setzung, v. 217). Doch da liegt’s. Verlangt Zeus das Opfer, oder vermeint Agamemnon nur, dass Zeus gebiete? Es lohnt, den von B. gelegentlich recht streng zensierten (16) Aristoteles zu berücksichtigen. Der konstatiert im 13. Kapitel der Poetik, in einem gut verfassten Tragödienstoff geschehe der Umschlag von Glück ins Unglück nicht infolge der üblen Beschaffenheit, sondern wegen einer großen Verfehlung des Helden, der, vgl. Kapitel 2, zu den moralisch Höherwertigen zu gehören habe. Eine solche Sicht befördert die Tragödie natürlich weg von einer Veranstaltung ad maiorem dei gloriam, nämlich um »die Gerechtigkeit des Zeus zu demonstrieren« (B., 157), zurück zu einem Bühnengeschehen, in dem der Mensch durch eine eigene Entscheidung die Katastrophe erleidet. Nicht ist der Mensch Werkzeug (vgl. B., 196 f.), vielmehr in seiner Wahl frei. »Die Schuld ist dessen, der wählt, der Gott ist schuldlos«, lässt der von B. (37–43) recht präzeptoral abgefertigte Platon seinen Armenier Politeia 10, 617e 4 f. sagen. Wäre es anders, würden Aischylos’ Tragödien langweilige Schicksalsdramen sein mit dem endlosen Bekennerjubel »Heilig, heilig, heilig ...«. Im Übrigen die »Theologie« des Niobe-Fragments 154a Radt – der Gott lässt den Sterblichen eine Ursache erstehen, wenn er ein Haus gänzlich verheeren will – auf die Wahlohnmacht des Handelnden zu beziehen, ist ohne einschlägige Diskussion der Sprecherfrage (Niobe, Amme Niobes, der Kinder, Antiope?) müßig. – Solches Bedenken gilt, unter anderen, auch für den P. D.
Das Prometheusdrama sei also »eine große Klage über die Un­gerechtigkeit des Zeus ..., so wie die Dramen des Aischylos einen großangelegten Preis seiner Gerechtigkeit darstellen« (B., 295). So be­trachtet, avancierte der P. D. gegenüber den sechs anderen Stücken zum Dokument einer Zeustheologie e contrario – und vice versa. Und temperamentvoll diskutiert B. die im Wesentlichen schon oft verhandelten Textpartien. Gewiss scheinen viele Argumente zu­nächst stark, wie jenes, dass des Zeus Regiment mit dem bei Aischylos ausschließlich negativ besetzten Begriff Tyrannis be­zeichnet werde (262 f.). Unbeachtet bleibt jedoch, dass dieses Wort — außer einmal von dem ungeschlachten, schwerlich differenziert denkenden Schergen Kratos, v. 10 – nur noch von Prometheus im Munde geführt wird; ebensowenig verwunderlich wie des Helden Schlusswort ekdika pascho (Außerrechtliches erleide ich). Dass die Fesselung des Helden an den skythischen Felsen die fällige Strafe für den Feuerdiebstahl ist, will der Stolze gar nicht leugnen (v. 266 provokativ: »gern, gern habe ich gefehlt«) und kann auch B. nicht verkleinern (305). Es läuft also hinaus auf die Frage: Ist Menschenfreundlichkeit für einen »gerecht« handelnden Zeus Grund genug abzusehen von der durch ihn gestifteten Weltordnung? Dieselbe pflegt, wie B. (268), freilich bagatellisierend und beiseiteschiebend, eingesteht, unnachsichtig hart aufrechterhalten zu werden – auch bei Aischylos selbst. Und dass Prometheus’ Menschenliebe trotz Diebstahlübergriffs im Sinne des »gerechten« Zeus gerecht sei, wird von B. auf S. 271 f. schlicht und diskussionslos vorausgesetzt. Es bleibt die Fatalität: das traditionell unvergängliche, im P. D. jedoch höchst bedrohte Zeusregiment – bedroht durch des Helden Vorherwissen von Zeus’ Sturz durch einen Sohn, der stärker sein werde als der Vater, welches Prometheus außer nach Lösung von der Fessel nicht preiszugeben gewillt ist (vgl. B., 288 f.). Doch der einfachen Frage nach Zeus’ vermeintlichem Schicksal (v. 519) weicht Prometheus aus, bleibt bei seinem Verweis auf Moira (v. 511) – die im Aischylos mit Zeus gleichgesetzt wird (!) und nur durch Prometheus hier, und erst auf Befragen, in die drei Moiren zergliedert wird. Das ist der Punkt, an dem der – von B. auf S. 308 f. recht linkshändig behandelten – Trilogie zu gedenken ist. Seit 140 Jahren (R. Westphal) besteht die Hypothese der Abfolge: D. P., P. Lyomenos (der gelöst wird) und P. Pyrphoros (der Feuerträger), von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1914) als »Entdeckung« gepriesen. Und dass im Lyomenos Herakles den leberfressenden Adler des Zeus schießen werde, ist im P. D. v. 386–192 vorbereitet – mit der vorher­bedachten (»Prometheus«!) Bedingung beziehungsweise Konsequenz, dass Zeus sich ihm in Freundschaft nähern werde. Den Adler des Zeus schießt der Sohn des Zeus: eine veritable »Lösung«.
Bedarf es also einer »Entwicklung« des Zeus? Keineswegs. Just der zu dieser Frage von B. (23 f.) zitierte Karl Reinhardt (Aischylos als Regisseur und Theologe, 1949, 70 f.) bestreitet solche Entwicklung zwar gleichermaßen, zeitigt aber die – von B. verschwiegene – hier einschlägige Erkenntnis: »Den Göttern eigen ist nicht, daß sie sich entwickeln, sondern daß sie zwei Gesichter zeigen.« Dass dann der Pyrphoros, der Feuerbringer, der Trilogie den für den Empörer versöhnlichen kultstiftenden Beschluss der Trilogie nach dem Muster der Eumeniden brächte, ist eine langgehegte, darum aber nicht ob­solete Überzeugung der Echtheitsvertreter. Und schließlich ruht B.s Datierung (295: nach 445) auf höchst unsicherer, da rein hypothetischer Grundlage: Die Wegbeschreibung, die Prometheus der Io gebe, sei »stark beeinflußt von ... Herodot ..., so daß wir einen klaren (!) Anhaltspunkt für die Datierung ... erhalten.«
Aischylos Dichtung ist weitgespannt genug, um dem P. D. Raum zu geben. – Die Rezension berücksichtigt nicht die zahllosen treffenden und klugen Bemerkungen zum Text, die B.s Studie zu einem ungemein lesenswerten Buch machen. Es ging ums Grundsätzliche. Eine Athetese des P. D. (B., 11) ist, da sie nicht empfohlen werden kann, nicht geeignet, die aischyleische »Theologie« zu be­gründen oder zu erhellen. Und jedenfalls wird B.s eigene Prognose Geltung behalten: »Daß die Diskussion um die Echtheit des P. D. nicht zu Ende ist und möglicherweise nie zu Ende gehen wird, dies muß objektiv so festgestellt werden.« (7)