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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1047-1049

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stanley, Brian

Titel/Untertitel:

The World Missionary Conference, Edinburgh 1910.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2009. XXII, 352 S. m. Abb. gr.8° = Studies in the History of Christian Mission. Kart. US$ 45,00. ISBN 978-0-8028-6360-7.

Rezensent:

Hauke Christiansen

Zwar hat sich die Forderung nach der »Evangelisation der Welt in dieser Generation« (J. Mott) nicht erfüllt, aber dafür gilt die Weltmissionskonferenz in Edinburgh von 1910 als Meilenstein in der Geschichte der ökumenischen Bewegung. Sie war nicht die erste und mit ihren 1.215 Delegierten aus über 130 Missionsgesellschaften auch nicht die größte Versammlung ihrer Art. Aber mit Blick auf die interkonfessionelle und zwischenkirchliche Verständigung die folgenreichste, eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Ent­- stehung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1948 in Amsterdam. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums wurden in der Oikumene, auf der ganzen bewohnten Erde, Symposien gehalten, Studienprozesse durchlaufen und Sammelbände zu Edinburgh veröffentlicht.
Vor diesem geschichtlichen und zugleich aktuellen Hintergrund veröffentlicht der britische Historiker Brian Stanley eine Untersuchung mit dem Titel »The World Missionary Conference, Edinburgh 1910«, deren Ziel darin besteht, sowohl einen »Eindruck von der Missionskonferenz als solcher zu vermitteln als auch eine zusammenhängende Interpretation der westlichen Missionsbewegung kurz vor dem Höhepunkt ihrer Entwicklung vorzulegen« (XX). Als Direktor des »Centre for the Study of World Christianity« an der Universität Edinburgh gehört die Forschung zur protes­tantischen Missionsbewegung des 18. und 19. Jh.s in Europa und Nordamerika zu S.s Schwerpunkten (u. a. Herausgeber von »Missions, Nationalism, and the End of Empire«, 2004), was man dem profunden und äußerst lesenswerten Werk Seite für Seite anmerkt. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war eine in Kapitel 9 (»Missions, Empire, and the Hierarchy of Civilization«) einfließende Vorarbeit von S. aus einem anderen Zusammenhang (XIII).
Zum Zweck der soziologischen und methodischen Erfassung der Missionsbewegung im beginnenden 20. Jh. hatten die internationalen Vorbereitungskomitees die Konferenz in acht thematische Kommissionen eingeteilt und zu jeder Kommission umfassende Fragebögen an Missionare auf den Missionsgebieten der Welt gesandt. Die eingegangenen Antworten wurden ausgewertet und flossen in Form von Berichten in die Konferenz ein.
Vorangehende wissenschaftliche Untersuchungen zur Weltmissionskonferenz hatten sich auf die Analyse einzelner Kommissionen, vor allem der Kommission IV »The Christian Message in Relation to Non-Christian Religions« beschränkt (u. a. Paul Hedges, Preperation and Fulfilment: a history and study of fulfilment theology in modern British thought in the Indian context, 2001; Kenneth Cracknell, Justice, Courtesy and Love: theologians and missionaries encountering world religions, 1846–1914, 1995). S. legt nun eine umfassende Auswertung der Kommissionen vor (mit Ausnahme von Kommission V »The Training of Teachers« und VI »The Home Base of Missions«) – nicht nur der Konferenzberichte, sondern auch der Protokolle aus den Vorbereitungssitzungen, der Antwortbögen und der Reaktionen aus dem Konferenzplenum. Er bringt hauptsächlich Primärquellen in seiner Darstellung zum Sprechen (und setzt die Sekundärliteratur maßvoll ein). Für ihre Erhebung hat S. Archive und Bibliotheken in Nordamerika, Großbritannien und Kontinentaleuropa aufgesucht und die existierenden Papiere – zum großen Teil Manuskripte – ausgewertet. Dabei schafft S. gemäß seiner Zielsetzung den Spagat zwischen einem Gesamtüberblick über die Missionskonferenz im Kontext der protestantischen Missionsbewegung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh.s und der Darstellung von akuten missionstheolo­gischen Einzelproblemen und Diskussionsgängen während der Vorbereitung der Konferenz und ihrer Durchführung (so z. B. der Einfluss von A. G. Hoogs erfüllungstheologischem Ansatz auf die Stellungnahme von Kommission IV zur Bedeutung des Christentums im Verhältnis zum Hinduismus [222 ff.]).
Den Hauptteil seines Werks (Kapitel 5–10) widmet S. der Erarbeitung und Darstellung der Kommissionen (I: Carrying the Gospel to all the Non-Christian World, II: The Church in the Mission Field, III: Education in Relation to the Christianisation of Na­tional Life, IV–VI s. o., VII: Mission and Governments, VIII s. u.). Die ersten vier Kapitel legen die missionsgeschichtliche Einordnung der Konferenz (Kapitel 1), ihre Anfänge, Vorbereitungen und Herausforderungen (Kapitel 2–3) und ihre organisatorischen Rahmenbedingungen (Kapitel 4) dar. In Kapitel 11 fasst S. aus seiner Sicht das Vermächtnis von Edinburgh zusammen.
Trotz der kapitelweisen Darstellung der einzelnen Kommissionen verfällt S. nicht der Versuchung, übergreifende Konferenzthemen auszusparen. Aktuelle Fragestellungen trägt er an den Forschungsgegenstand heran und beschränkt sich nicht auf historische Nacherzählung. Das Problem der Vernachlässigung in­digener, vor allem afrikanischer Vertreter und ihrer Theologien in Edinburgh z.B. taucht an verschiedenen Stellen seiner Darstellung auf (Ka­pitel 1, 5, 6, 8 und 9). Ebenso versteht er es, trotz augenfälliger Übereinstimmung in organisatorischen Fragen die (missions-)theolo­gischen Divergenzen zwischen den anglo-amerikanischen Hauptakteuren der Konferenz anhand der minutiösen Auswertung von Sitzungsprotokollen und Briefen herauszuarbeiten.
S. profiliert seine eigene Meinung u. a. in seiner Einschätzung zu dem Ergebnis von Kommission VIII »Co-operation and the Promotion of Unity«, die Kommission mit dem einzigen offiziellen Beschluss von Edinburgh, der zugleich die historisch größte ökumenische Wirkung erzielte (277–302: »Missionary Co-operation: Its Limits and Implications«).
Der Beschluss zur Bildung eines internationalen Fortsetzungsausschusses führte schließlich 1921 zur Gründung des Internationalen Missionsrates, eines wichtigen Bausteins für die ökume­nische Kooperation bis hin zu Amsterdam. S. räumt mit dem Urteil auf, der Beschluss für den Fortsetzungsausschuss sei Ergebnis der Verhandlungen von Edinburgh im Juni 1910 gewesen. Anhand sorgfältiger Analyse der Quellen zeigt er, dass die Idee bereits in den Vorbereitungskomitees weit vor der Konferenz geboren wurde und auf das Vorbild existierender nordamerikanischer und kontinental-europäischer Kooperationen zu­rückgeht (»Foreign Missions Conference of North America«, seit 1893, und »Ausschuss der deutschen evangelischen Missionen«, seit 1885), deren Idee sich die britischen Missionsgesellschaften in Edinburgh dann auch »anschlossen«. Überspitzt zusammengefasst: Der Fortsetzungsausschuss war das Ergebnis von kontinentaleuropäisch-amerikanischen Verhandlungen und wäre auch ohne Edinburgh zustande gekommen.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Weltmissionskonferenz auf die Tagung in Edinburgh reduziert werden kann oder ob die Konferenz nicht mit ihrer mehrjährigen Vorbereitungszeit insgesamt als ökumenischer Verständigungsprozess anzusehen ist, der im Juni 1910 in Edinburgh einen Kristallisationspunkt fand, in dem die erarbeiteten Ergebnisse zusammengetragen wurden. Der Beschluss zur Bildung eines Fortsetzungsausschusses war sicher lange vorbereitet, kam aber durch die besondere Atmosphäre der internationalen Konferenz zustande und erreichte durch die herangetragenen Erwartungen der Delegierten noch einmal beson­-dere Qualität.
Das Nachvollziehen der Gegensätze, der Diskussionen und schließlich der irenischen Entscheidungen zu manchen Problemstellungen in Edinburgh führen im deutschen missionstheologisch interessierten Leserkreis unwillkürlich zu der Frage, welche Impulse zum Gelingen der Konferenz von den deutschen Mitarbeitern in den Vorbereitungsausschüssen und den deutschen Delegierten auf der Konferenz ausgingen, z. B. von Julius Richter, Jo­hannes Warneck, Carl Mirbt etc. Diese Frage ist nicht in S.s Fokus; er lässt sie darum verständlicherweise unbeantwortet. Aber das Werk des britischen Gelehrten macht Lust und bietet einen soliden Ausgangspunkt, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen und sich mit den Ergebnissen von Edinburgh und ihren Fernwirkungen auf die deutsche missionstheologische Entwicklung weiterzubeschäftigen.