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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1040-1042

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hardmeier, Roland

Titel/Untertitel:

Kirche ist Mission. Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis.

Verlag:

Schwarzenfeld: Neufeld 2009. IX, 331 S. 8° = Edition IGW, 2. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-937896-77-9.

Rezensent:

Wilhelm Richebächer

Mit diesem Buch zeichnet H. die Ergebnisse seiner 2008 von der Universität von Südafrika angenommenen theologischen Dissertation Das ganze Evangelium für eine heilsbedürftige Welt: Zur Missionstheologie der radikalen Evangelikalen in einen breiteren theologischen Denkrahmen und gesellschaftlichen Horizont ein. Durch flüssige Sprache und übersichtliche Aufmachung wird die intendierte Gemeindenähe erreicht. Hauptziel der Schrift ist nämlich die Hinführung der von H. als Adressaten vorgestellten evangelikalen Christen in Europa (VI.49.232.309 u. ö.) zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis, welches diese in einem wertschätzenden und selbstkritischen Umgang mit der eigenen Tradition einüben sollen. Vier wesentliche Argumente sind:
1. Einer an biblischen Grundlagen orientierten evangelikalen Missionstheologie kann es nicht einfach (apokalyptisches Motiv) um Rettung der Seelen aus einer der Zerstörung geweihten Welt gehen, da sich das Heilshandeln Gottes in Christus über das Bundesvolk hinaus auf die ganze Schöpfung segensreich auswirkt. Soziale Verantwortung gehört also wie Evangelisation zum Wesen der Mission.
2. Mission als ganzheitlicher Wandlungsprozess der Welt ist keine neue Idee von Abweichlern von einer konservativen evangelikalen Front. Sie hat sich seit den 60er Jahren, dokumentiert in der Lausanner Verpflichtung von 1974 und weitergeführt vor allem 1988 durch die Erklärung von Medellin, längst unter den Evangelikalen der Zwei-Drittel-Welt etabliert.
3. Ganzheitliche Mission reagiert nicht allein auf die aktuelle geschichtliche Lage der Kirchen und ihrer Mitglieder in den armen Ländern des Südens, sondern hat auch eine europäische oder nordamerikanische Theologie als kontextuelle im Blick.
4. Ihre biblische Textgrundlage erblickt solche Missionsauffassung nicht primär oder gar ausschließlich im »Missionsbefehl« des auferstandenen Christus nach Mt 28, sondern in einer breiten biblisch-theologischen Gesamtsicht der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung als Bundes- und Heilsgeschichte, deren Motive von der ersten bis zu letzten Seite der Heiligen Schrift im Sinne einer schriftlichen Gottesoffenbarung dokumentiert sind.
Für diese vier Argumente sammelt H. in überzeugender Weise Argumente sowohl aus der kirchen- und theologiegeschichtlichen Entwicklung in Nord und Süd (Kapitel 1–3) als auch in der Nachzeichnung missionstheologischer Paradigmen vom Motiv der Wiederherstellung des Beziehungsgeflechts zwischen Schöpfer und Geschöpfen (Kapitel 4) über die Rolle Israels in der alttestamentlichen Phase heilsgeschichtlicher Mission (Kapitel 5) und die Bedeutung der Kirche für die gegenwärtige Transformation der Welt aufs Reich Gottes hin (Kapitel 6) bis hin zum Grundtypus dieser Mission in Lebensvorbild und Heilswerk sowohl des Menschen Jesus als auch des auferstandenen Gekreuzigten (Kapitel 7–8). Viele Leser, auch von außerhalb des angesprochenen Adressatenkreises, werden dies wertschätzen.
Umso fragwürdiger wird es gerade ihnen vorkommen, in welcher Selbstabgrenzung H. »evangelikale Theologie« ge­genüber anderen offensichtlich als minderwertig angesehenen Formen der Theologie meint betreiben zu können. Dabei pflegt er einmal mit einem selbstverständlichen Insider-»Wir« das Image eines europä­ischen »Evangelikalismus«, andere Male wieder das des evange­lischen Theologen. Eine latente Äquivokation und damit Unklarheit in der Selbstbezeichnung und Abgrenzung der Glaubenstraditionen und theologischen Schulrichtungen verwirrt. Dieser Eindruck wird nicht gerade abgeschwächt, wenn die Bedeutungen, die er seiner Kategorie »evangelikale Kirchen« (V.16.174 u. ö.) beimisst, zwischen einem nahezu römisch-katholischen Verständnis von sakramentaler »Verkörperung des Heils« (129) und den Formen missionaler Gemeinschaften, die als emerging churches kreativ, aber institutionell kaum greifbar sind (190 u. ö.), schwanken. Nach eigenem Bekunden geht es H. hierbei um die »kommende Generation von Kirchen« (16), die im Evangelikalismus heranwachsen. Manche Leser im deutschsprachigen Bereich, die sich schlicht als evangelische Theologen und bewusste Glieder einer Kirche der Reformation verstehen, wären H. aber sicher dankbar, wenn er die Bezeichnung »evangelikale Kirchen« auch nur ansatzweise historisch und soziologisch abgegrenzt hätte. Dies wäre auch für die latente Diskussion um »evangelikale« und/oder »evangelische« Präsenz in der Öffentlichkeit hilfreich.
Weiterhin fragt man sich, warum H. sowohl die Traditionslinien der evangelisch-lutherischen als auch die der römisch-katholischen Missionstheologien der zurückliegenden Jahrzehnte nicht mit heranzieht, obwohl er sie sachlich ständig berührt, sondern die Entwick­lung des H. zufolge avantgardistischen evangelikalen Missionsverständnisses nur aus Lehrprozessen dieser Richtung im Umgang mit lateinamerikanischer Befreiungstheologie, kontextuellen Theologien im Zwei-Drittel-Welt-Bereich und Ansätzen im Umfeld des Ökumenischen Rates der Kirchen erklärt. Hier wären zu nennen: der heilsgeschichtliche Ansatz wie die verheißungsgeschichtliche Grundgesinnung infolge der ganzheitlichen Missio Dei-Theorie oder die sich auf kulturübergreifende Hermeneutik und Kommunikation gründende Missionslehre (wie etwa bei T. Sundermeier oder H. Balz; s. Übersicht in T. Sundermeier, Theologie der Mission, Lexikon missionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 1987: 470–495); aber auch die Missionslehre des 2. Vatikanums, die sich mit dem Dekret »Ad gentes« 1965 schließlich auch auf ein berühmtes Kirchenmodell (»Lumen gentium«, vgl. Kapitel 5 bei H.) gründet. So aber erweckt das Buch den Eindruck, dass es außer der hier dargestellten evangelikalen Missionstheologie zumindest im evangelischen Bereich nichts anderes gibt als humanistische Weltverbesserungslehren. Leider verschenkt eine großenteils Horizonte eröffnende Schrift gute Gelegenheiten zum traditionsübergreifenden theologischen Ge­spräch.
Ebenso kann wegen der Vermeidung dieses Dialogs mit der weiteren evangelischen Missionstheologie nicht sichtbar werden, dass auch Gefahren darin liegen, wenn Kirche sich schlechthin mit Mission identifiziert. Die heute in Europa so wichtige Frage, wofür gerade Kirche und christliche Theologie im Missionsgeschehen zwischen Gott und seiner Schöpfung spezifisch Verantwortung übernehmen müssen und wer sonst noch außer der Kirche wie an diesem Kommunikations- und Transformationsprozess der Mission beteiligt ist, wird wieder verwässert. Denn wie in früheren Epochen der Kirchengeschichte bleibt jede christliche Kirche dazu aufgerufen, den ihr wesentlich und geschichtlich zukommenden Auftrag der Mission konstruktiv zu gestalten, während sie es sich gleichzeitig versagen muss, ihre geschichtliche Gestalt schlicht als Verkörperung der Gnade und Treue Gottes anzusehen, als könne sie durch ihre eigene Ausstrahlung das bewirken, von dem sie selbst gleichermaßen wie alle Welt abhängig ist: Gottes Welt schaffende und verändernde Gerechtigkeit.
Abgesehen von den genannten Schwächen ist aber festzuhalten, dass das Buch von allen an Missionstheologie interessierten Lesern mit Gewinn wahrgenommen werden wird. Mit vielen seiner Passagen könnte es dazu beitragen, eine halbwegs konsensfähige Missionstheologie für die weltweite evangelische Kirchenfamilie zu finden.