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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1028-1031

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sörries, Reiner

Titel/Untertitel:

Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs.

Verlag:

Kevelaer: Butzon & Bercker 2009. 331 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-7666-1316-5.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Reiner Sörries verfügt über vielfältige wissenschaftliche Voraussetzungen für die Rekonstruktion einer »Kulturgeschichte des Friedhofs«: ein Studium der Archäologe, eine durch Promotion und Habilitation nachgewiesene Qualifikation in der Evangelischen Theologe (näherhin im Bereich der Historischen Theologie) sowie eine von ihm aktuell an der Universität Erlangen gehaltene Professur in der Fächerkombination von Christlicher Archäologie und Kunstgeschichte. Zudem konnte er seine Kenntnisse in organisatorischen Schlüsselpositionen vielfältig weitervermitteln: So wirkt er seit 1992 als Geschäftsführer der »Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal« und ist zugleich Direktor des Zentralinstituts und Museums für Sepulkralkultur in Kassel.
»Ruhe sanft« ist ein Buch, das in diachroner Gesamtperspektive sowie unter Rückgriff auf den großen »Werkzeugkasten« der kulturgeschichtlichen Annäherungsweisen die weitgehend auf den deutschen Sprachraum konzentrierte Geschichte des Friedhofs in den Blick nimmt. Anders als der Untertitel der Monographie vermuten lassen könnte, fanden die Toten ihre Ruhestätte im Verlauf der Geschichte allerdings längst nicht immer auf einem »Friedhof«, wie S.s Monographie zu entnehmen ist.
Die gut lesbare und durch geschickt ausgewähltes Bildmaterial unterstützte Studie setzt in der Antike ein, gibt einen Überblick über die Friedhöfe im Mittelalter, erläutert die Grabanlagen in der Frühneuzeit, um schließlich die Entwicklung des Friedhofs zwischen der Neuzeit und der Gegenwart in den wissenschaftlich analysierenden Blick zu nehmen. Innerhalb dieser chronologischen Grobstruktur stellt S. die Erläuterungen zu den Einzelepochen stets unter bestimmte Leitgedanken, welche das je Typische in der Anlage des Friedhofs hervorzuheben suchen.
So übernahmen die Christen anfänglich zwar die Vorgabe von Gräberfeldern, verlagerten die Sorge um die Bestattung und die Ruhestätte allerdings von der jeweiligen Blutsfamilie in die Hände der geistlichen Familie. Damit oblag der spätantiken Christengemeinde die Verantwortung für die Begräbnisorte ihrer Mitglieder. Die sozialgeschichtlich bemerkenswerte Folge bestand unter anderem darin, dass auch die Armen, die ehedem in Sandgruben verscharrt worden waren, nunmehr ein Grab unter ihren Glaubensbrüdern und -schwestern – eben innerhalb der Gemeinschaft der Gotteskinder – erhielten. Es ist genau diese »im Wesentlichen christlich geprägte Idee vom solidarisch getragenen Friedhof für alle, die den Säkularisierungs- und Individualisierungsbestrebungen in der Gegenwart nicht mehr standhalten kann« (22), wie S. mit Blick auf seinen Argumentationsbogen im ersten Kapitel seines Buches lesersteuernd vorwegnimmt. Natürlich wirkte sich der Wunsch nach einer Bestattung »ad sanctos« auf die zentrierende Kraft der christlichen Friedhofsidee stimulierend aus.
Im Mittelalter entstand der Kirchhof, auf dem direkt um die Kirche herum begraben wurde. Eine Umfriedung sollte den heiligen Bezirk nochmals hervorheben, wie mittelalterlichen Visitationsprotokollen zu entnehmen ist. Zugleich war dieser Kirchhof der Zielpunkt zahlreicher rechtlicher Vorgaben (Anordnung, Ausstattung etc.). In diesen Zusammenhang bezieht S. sowohl die Siechen-, Pest- und Leprosenfriedhöfe als auch die jüdischen Friedhöfe vergleichend mit ein. Auch erläutert er im Kontext der »großen Geschichte«, wie sehr nicht zuletzt die Friedhöfe mit den Konfessionalisierungsprozessen der frühneuzeitlichen Gesellschaft verflochten waren. Während die Katholiken den Friedhof als Kirchhof beizubehalten suchten, begannen die Protestanten im 16. Jh., die Friedhöfe vor die Stadt auszulagern, weil sie nicht länger an die privilegierte Lage eines Grabes aufgrund der räumlichen Nähe zu den Reliquien glaubten – ein Trend, der durch die aufklärerische Bewegung mit dem Verweis auf hygienische Gründe weitere Plausibilität zugesprochen bekommen sollte. Tatsächlich zählen in S.s Monographie die konfessionsvergleichenden Passagen (theologische Fundierung der Friedhöfe, Bildprogramm der Friedhöfe, Anlage der Gräber oder Ausstattung der Friedhöfe) zu den stärksten Kapiteln, zumal S. oftmals geradezu beiläufig-selbstverständlich erläutert, wie sehr sich manche ehedem kontroverstheologisch diskutierte Themen heutzutage aus sozialgeschichtlichen Perspektiven problemlos »entschärfen« lassen: In diesem Sinne führt er beispielhaft aus, dass die Umstellung von der heidnischen Feuerbestattung auf die christliche Ganzkörperbestattung in spätantiker Zeit vor allem dadurch bedingt gewesen sei, dass die Holzvorräte zur Neige gingen; die seit dem 19. Jh. einsetzende katholische Polemik gegenüber den vermeintlich »paganisierenden«, weil feuerbestattenden Protestanten entbehrte damit eigentlich jeder theologischen Grundlage, wie man heute weiß.
Geradezu spannend liest sich, dass unter den Christen im 18. Jh. ausgerechnet die Herrnhuter Brudergemeinschaft mit ihrer starken Orientierung an der Urgemeinde wichtige Impulse für die moderne Friedhofsgestaltung zu geben vermochte; denn diese Christen entwickelten ein »eigenes Friedhofskonzept« (124). Während auf mittelalterlichen Kirchhöfen allzumeist »querbeet« be­stattet wurde, lagen die Gräber bei den Herrnhutern genau nebeneinander, waren gleich groß und zeigten sich im Erscheinungsbild – Grabplatte mit Name – einheitlich. Ebendieses Konzept sollte die Oberhand gewinnen, als es zeitgleich nicht selten zu einer Enteignung der Friedhöfe kam, indem die Sorge um diese Orte oftmals kommunal umgestellt und überkonfessionell betrieben wurde.
Für die Epoche zwischen Neuzeit und Gegenwart präsentiert S. die Vielfalt der Beisetzungsweisen (und deren Vorbereitung) im Sinne eines konzisen panoramaartigen Überblicks: Entstehung und Bauweise der Krematorien, Gestaltung von Urnenfriedhöfen und -feldern, Aufkommen der anonymen Bestattungen als Ausdruck eines »epochalen Wandels« (198), Leitfriedhöfe und Lehrfriedhöfe etc. Es sei hervorgehoben, dass S. seine Ausführungen immer wieder anhand bekannter Friedhöfe und deren Eigenheiten ver­-anschaulicht und in diesem Zusammenhang sogar hiesige muslimische Friedhöfe berücksichtigt, ja dass er überdies einen Vergleich des Friedhofswesens zwischen DDR und BRD einbezieht.
Überzeugend fällt nicht zuletzt der Überblick über »alternative Beisetzungsformen« aus (Friedwald, Seebestattung, Gemeinschafts­grabstätten bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen – z. B. Fußballvereine – auf einem Großfriedhof, schließlich der Umgang mit der Asche von kremierten Verstorbenen bis hin zur »Diamantisierung« etc.). Eigens geht S. in diesem Zusammenhang auf virtuelle Friedhöfe oder auf Tierfriedhöfe ein, um sein Panorama schließlich in den größeren Kontext des europäischen Friedhofswesens einzuordnen, ja um überzeugend darzutun, dass die ehedem christlich initiierte Überzeugung eines gemeinschaftlich getragenen Friedhofs für die Mitglieder einer Gemeinde mittlerweile weitgehend an ihr Ende geraten ist.
Bei »Ruhe sanft« handelt es sich um ein durchweg empfehlenswertes Buch, das mit Blick auf die Gegenwart am Beispiel des Friedhofs grundlegende Zeitsignaturen in ihrer historischen Gewordenheit freilegt. So dient die Monographie nicht zuletzt auch der Standortbestimmung des 1992 eröffneten und gegenwärtig von S. geleiteten Kasseler Museums für Sepulkralkultur. Während dieses nämlich ursprünglich der von Experten getragenen »Geschmackserziehung der Bevölkerung für ein personenbezogenes Grabmal« hatte dienen sollen (204), begann sich die Friedhofsgestaltung beinahe zeitgleich zunehmend aus Expertenhand zu lösen, wie anhand der »von unten« entstandenen Gräberfelder für totgeborene Kinder beispielhaft erkennbar wird.
Zugleich weckt das Buch das Interesse daran, die weitere Entwicklung im Bereich der Totensorge und der Friedhofsgestaltung im wissenschaftlichen Blick zu behalten. So verdient es zukünftig Beachtung, ob es dem Christentum zumindest partiell gelingt, die unter anderem in der anonymisierten Bestattung zum Ausdruck gekommene Individualisierung im Begräbniswesen zugunsten eines neuerlich vom Gemeinwesen bzw. von Einzelgruppen des Gemeinwesens getragenen Friedhofs umzukehren. Damit würden die Christen an einem Trend partizipieren, der sich heutzutage in Grabanlagen für Fußballfans oder andere (Sozial-)Gruppen (AIDS-Tote etc.) bereits neue Wege sucht.