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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1024-1026

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Im Auftrag d. Evangelischen Militärbischofs hrsg. v. Evangelischen Kirchenamt f. d. Bundeswehr. Redaktionelle Leitung H. v. Schubert.

Titel/Untertitel:

Friedensethik im Einsatz. Ein Handbuch der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 445 S. gr.8°. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-579-08092-5.

Rezensent:

Dieter Beese

Das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr thematisiert mit dem »Handbuch der evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr« ausführlich die friedensethischen Aspekte des Einsatzes der Bundeswehr. Die Publikation steht in einem brisanten Rezeptionskontext. Funktion und Einsatzform der Bundeswehr haben sich seit ihrer Aufstellung grundsätzlich gewandelt, zumal nach der Wende 1989. Afghanistan ist nicht der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr. Sie war bisher insgesamt an über 130 Auslandseinsätzen beteiligt (167).
Das Handbuch ist als Arbeitshilfe für den Lebenskundlichen Unterricht (LKU) durch Militärseelsorgerinnen und -seelsorger konzipiert. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sollen bei ihrer ethischen Urteilsbildung unterstützt werden. Ein Geleitwort des Evangelischen Militärbischofs Martin Dutzmann ist der Publikation vorangestellt. Leserinnen und Leser gewinnen einen Einblick in die ethische Binnenkommunikation der Bundeswehr im Umfeld der evangelischen Militärseelsorge. Die Argumentation folgt der Linie der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 mit dem Leitbegriff des gerechten Friedens und konkretisiert sie berufsethisch als Ethik der Anwendung rechtserhaltender Gewalt im militärischen Einsatz. Die Aufgabe der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr wird charakterisiert als Schärfung der Gewissen, Vermittlung von Orientierungswissen und Ermunterung zu eigenverantwortlichem Handeln (11).
Militärdekan Hartwig von Schubert hat die Beiträge redigiert, die zwischen 2005 und 2008 entstanden sind. 15 Autorinnen und Autoren werden im Autorenverzeichnis (445) genannt. Elf stehen im Pfarrdienst der Militärseelsorge, zwei arbeiten als Wissenschaftliche Direktoren am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in Strausberg (Angelika Dierken-Dörfler) und an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg (Volker Stümke). Ein Autor ist als Jurist im Bundesministerium für Verteidigung (Peter Dreist) und ein weiterer war ehemals als Leitender Regierungsdirektor am Zentrum für Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz tätig (Oskar Matthias Freiherr von Lepel).
Das Handbuch ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil »Zur Tradition und Auslegung abendländischer Ethik« (13–107) bietet Reflexionen über Aristoteles, die Bibel, Luther, Calvin, Kant und Rawls (14–80). Diese Ethiktraditionen werden systematisch fokussiert als »Kunst freiwilliger Selbstbeschränkung« (14). Sie bilden die Wurzeln des »Ethos eines universalen Menschenrechts«, das jüdisch-christliche Theologie und moderne säkulare Menschenrechtsidee historisch und systematisch verbindet (50). Ein weiteres ausführliches Referat über Stationen politischer Ethik auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat von der Antike über das Konstantinische Zeitalter, die Bildung der Nationalstaaten, die neuzeitliche Demokratie und das universale Menschenrecht (81–107) bildet den historischen Rahmen für den anschließenden friedensethischen Diskurs. Als Ertrag ergibt sich das dem Menschenrechtsethos verpflichtete freiheitlich-demokratische Staatsmodell, in dem Freiheit und Gerechtigkeit ausbalanciert sind und menschliche Sicherheit gewährleistet ist.
Der zweite Teil »Der gerechte Frieden und die Ethik rechtserhaltender Gewalt« (109–344) bildet den Schwerpunkt des Handbuchs. Er gliedert sich in drei Unterteile: »Vom gerechten Frieden« (109–139), »›Menschliche Sicherheit und Entwicklung‹ als Ziel der Friedenspolitik« (140–172) und »Die Zivilisierung der Gewalt beim Einsatz von Streitkräften« (173–343). Die hier gebotene »eigentliche Ethik in den Streitkräften« legt »die rechtserhaltende Gewalt im Kontext der Lehre vom gerechten Frieden … sowie das politische Konzept ›Menschliche Sicherheit‹ im Blick auf die eigentlichen berufsethischen Fragen von Soldaten aus« (173). Dieser Abschnitt ist seinerseits in acht Teile gegliedert: 1. Allgemeine Wehrpflicht, Gewissensfreiheit und Innere Führung als politisch-ethische Grundlagen der Bundeswehr, 2. Die Gewaltanwendung nach Be­ginn des bewaffneten Konflikts, bei Friedens- und Krisenreaktionsoperationen sowie bei der Terrorismus­bekämpfung, 3. Rechtliche Stellung von Sanitätspersonal und Militärgeistlichen, 4. Staatliches Recht in der Tragik bewaffneter Konflikte, 5. Der militärische Schutz und seine Herausforderungen, 6. Die soldatische Gemeinschaft und das Privatleben, 7. Die öffent­-liche Re­chenschaft von Medien, Sicherheitspolitik und Streitkräften, 8. Schuld und Vergebung.
Der dritte Teil befasst sich mit der »Vermittlung ethischer Bildung im Lebenskundlichen Unterricht« (345–362) und enthält Erörterungen zu Rahmenbedingungen und Didaktik des LKU sowie zur Methodik ethischer Urteilsbildung in Fallstudien. Im LKU nimmt die Kooperationspartnerschaft zwischen Innerer Führung und Militärseelsorge auf dem Gebiet der Bildung konkrete Gestalt an. Der LKU ist »nicht Teil, aber eine wesentliche und unverzichtbare Ergänzung der Inneren Führung« (346). Der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 »Innere Führung«, 2008, welche die ZDv 66/2 1959 ablöste, folgte eine gemeinsam von Bundesministerium, evangelischer und katholischer Militärseelsorge erarbeitete Vorlage für die ZDv 10/4 »Lebenskundlicher Unterricht«. Die Umsetzung dieser Vorlage ist der äußere Anlass zur Entstehung des Handbuchs (10). Sie zielt auf die »berufsethische Unterrichtung … durch Geistliche als dafür besonders qualifizierte Lehrkräfte« und wendet sich »künftig an alle Soldaten unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Bindung«. Damit grenzt sie sich von Religionsunterricht und Religionsausübung ab (346).
Das Handbuch verdeutlicht, wie die Militärseelsorge, vornehmlich durch rechtsethische Bewusstseinsbildung, die friedensethischen Impulse der evangelischen Kirche in die Bundeswehr hinein vermittelt. Angesichts des Risikos der Dezivilisierung durch Ge­waltanwendung wird ein Ethos der Rechtsbefolgung gestärkt, das der Deeskalation von Konflikten dient, die Eigendynamik des militärischen Apparats durchbricht und die persönliche Bindung an die Menschenrechtstradition stärkt. Die ethische Urteilsbildung wird an differenzierte Sachkenntnis und konkrete Fallkonstellationen gebunden, moralische Orientierung und kollegial-fürsorgliche Begleitung verweisen aufeinander.
Eine klarere und unmittelbarere Zuordnung von Autorennamen und Beiträgen wäre hilfreich gewesen, zumal die Autoren ausdrück­lich keine offizielle oder autorisierte Position, sondern ihre persönlichen Auffassungen vertreten (12). Eine große Lesehilfe wäre eine ausführlichere sachliche Einleitung, die das Handbuch über den äußeren Anlass der Umsetzung einer neuen Dienstvorschrift zum LKU hinaus in die aktuelle Diskussionslage einordnete. Interdisziplinäre Orientierung wird angestrebt (13). Paritätische Kooperation ausgewiesener Fachwissenschaftler innerhalb und außerhalb der Bundeswehr hätte hier dem Anschein einer gewissen Klerikalisierung wehren können. Nun stellen vornehmlich Militärgeistliche ihre hermeneutische, ethische und didaktische Kompetenz sowie ihre Feldkompetenz unter Beweis (11). Ideengeschichtliche und normative Argumentationsreihen dominieren. Historisch kritische und empirische Analysen treten demgegenüber zurück. Eine Reflexion der Rolle der Kirchen (und Religionsgemeinschaften) einschließlich der Militärseelsorge in Krieg und Frieden könnte exemplarisch die Gewalt- und Friedenspotentiale institutionalisierter Religion und religiöser Einstellungen freilegen. Bei der großen Nähe der evangelischen und katholischen Kirchen zum Begriff des gerechten Friedens und angesichts des globalen Horizonts des berufsethischen Diskurses überrascht der Verzicht auf zusammenhängende Ausführungen zur ökumenischen Friedensethik und zu ihrer interreligiösen und interkulturellen An­schlussfähigkeit. Das Handbuch schreibt dem LKU große Bedeutung zu. Dies würde nahelegen, ihn als Paradigma beruflicher Erwachsenenbildung in kirchlicher Verantwortung bildungstheoretisch zu würdigen. Dem Handbuchcharakter würde eine systematisierte Einführung in Literatur und Medien für den LKU entsprechen.
Das Kirchenamt für die Bundeswehr stellt den Militärpfarrerinnen und Militärpfarrern ein Handbuch zur Verfügung, das dazu anregt und ermutigt, die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ihrer abendländischen Wurzeln zu vergewissern. Deren ethischer Gehalt soll unter den Bedingungen der Globalisierung im konkreten Einsatz als mäßigendes und zivilisierendes, der Würde des Menschen entsprechendes und dienendes Potential erschlossen und bewährt werden. Dies geschieht durch strikte Bindung von Haltung und Verhalten an das universale Menschenrecht. Die Militärseelsorge trägt durch ihre Bildungsarbeit zur Orientierung und zur Stabilisierung der moralischen Integrität der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im bewaffneten Konflikt bei. Sie leis­tet mit diesem Handbuch darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr in bewaffneten Konflikten.