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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1020-1022

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Weier, Winfried

Titel/Untertitel:

Gott als Prinzip der Sittlichkeit. Grundlegung einer existentiellen und theonomen Ethik.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 296 S. gr.8° = Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie, Soziologie der Religion und Ökumenik. Neue Folge, 52. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-76719-6.

Rezensent:

Dietz Lange

Der Autor, emeritierter Professor für Christliche Philosophie in Würzburg, möchte eine religiöse Begründung der Ethik rein rational als zwingend erweisen; nur deren spezifisch christlicher Cha­-rakter setze die Offenbarung voraus. Er folgt damit der römisch-katholischen religionsphilosophischen Tradition, insbesondere dem Vorbild des Thomas von Aquin.
Dieser Ansatz verlangt die Auseinandersetzung mit den heute das Feld beherrschenden, überwiegend ganz anders gelagerten Konzepten neuzeitlicher Philosophie. W. unterzieht sich dieser Aufgabe und führt ein breites Spektrum ganz unterschiedlicher Auffassungen vor. Daraus spricht eine eindrucksvolle Belesenheit. Deren Kehrseite ist freilich ein recht schematisches Verfahren, das in der summarischen Subsumierung moderner philosophischer Ethik unter dem Begriff des »Autonomismus« und in ihrer schlichten Rubrizierung als Positivismus, Psychologismus und Agnostizismus zum Ausdruck kommt (19–26). Wie misslich das ist, zeigt sich z. B. darin, dass Kants transzendentale Apperzeption in diesem Raster als Kombination der beiden erstgenannten Fehleinstellungen erscheint (24). Die ausführlichere Auseinandersetzung im vierten Teil des Buches wiederholt diesen Schematismus zwar nicht, wirkt jedoch aufgrund der äußersten Knappheit, in der hier die Fülle des Materials abgehandelt wird, ebenfalls etwas schablonenhaft.
W. ist der Auffassung, ohne Eintragung theologischer (17–19) Ge­sichtspunkte leicht nachweisen zu können (15), dass allein der Rekurs auf eine transzendente personale Instanz eine zureichende Fundierung sittlichen Handelns biete. Darum klärt er zunächst in der Einleitung die Voraussetzungen philosophischer Gotteserkenntnis (29–34). Ausgehend von dem ethischen Phänomen unbedingten Sollens will er eruieren, was für dasselbe wesenskonstitutiv bzw. was seine Ursache ist (31). Er verwendet also Strukturelemente des kosmologischen und des ontologischen Arguments für einen moralischen Gottesbeweis, der jedoch im Unterschied zu Kant kein Postulat bleiben soll. Vielmehr sei die ontologische Hinordnung des Menschen auf einen absoluten Sinn evident, weil sie sich im Urvertrauen unbezweifelbar manifestiere (33). Für abweichende Auffassungen ist »nicht eine Einsicht, sondern … eine voluntative Verfestigung« – oder deutlicher: Böswilligkeit – verantwortlich (34). Kants Kritik der Gottesbeweise hat W. offensichtlich nicht überzeugt. Zwar heißt es an späterer Stelle: »Es geht nun freilich nicht an zu schließen, weil Existenz diesen [sc. transzendenten] Sinn fordert, müsse er auch bestehen.« Unmittelbar danach be­hauptet W. jedoch, weil die Sinnforderung für den Urakt menschlicher Freiheit der Selbstbestimmung »unaufgebbar« sei, könne sie »nicht von ihm selbst gesetzt … sein«, sondern müsse objektiv in der Transzendenz gründen (246). Der Widerspruch bleibt unaufgelöst.
Der Hauptteil des Buches ist wie folgt gegliedert: I Phänomenologie und Metaphänomenologie der sittlichen Sollenserfahrung (41–128), II Wesenszüge und Struktur des Phänomens (129–201), III Grundgehalte des sittlichen Sollens. Der Wert und der Sinn (203–250), IV Die Deutung des Phänomens in der Gegenwart (252–292).
Im ersten Teil wird die in der Einleitung explizierte These in immer neuen Anläufen – streckenweise etwas ermüdend – näher ausgeführt. Personalität, Freiheit und Unbedingtheit sind die Grundelemente aller Sittlichkeit (41–45). Bei ihrer Verknüpfung liegt W. im Sinn der »autonomen Moral« moderner katholischer Moraltheologie alles daran, dass im Begriff des unbedingten Sollens die »Seinsabhängigkeit« von dem absoluten personalen Subjekt der sittlichen Forderung (82–93) und deren freie Anerkennung (93–103) zusammengedacht werden, dass also Heteronomie und Autonomie sich im Begriff geschaffener Freiheit zur Theonomie verbinden. Deren Struktur wird freilich nicht völlig deutlich. Das dürfte an der Kombination sehr unterschiedlicher Traditionselemente liegen. Einerseits führt die ontologische Grundlegung der Sollenserfahrung mithilfe des scholastischen Gottesgedankens der causa finalis zu der Konsequenz: »Im Sinn der Existenz ist … der Grund unseres eigenen Wesens, unseres Selbstseins zu sehen, den wir daher anerkennen, dem wir folgen müssen« (96). Andererseits soll in Anknüpfung an die Dialogphilosophie gelten: »Der Zielgrund des absoluten Selbstseins [sc. menschlicher Existenz] besteht in einem Dialog mit dem absoluten Selbst [sc. Gott]« (99); die »Teilhabe an der unendlichen Existenz« sei »partnerschaftlich« (120).
Im zweiten Teil bestimmt W. das Verhältnis von Sein und Sollen. Er meint, mithilfe der ontologischen Verortung des Sollens eine naturalistic fallacy (Moore) vermeiden zu können. Das Selbstsein des Menschen sei zugleich Gegebenheit und Ziel – »Werde, der du bist« (131.133). Freilich genüge diese Hinordnung auf das Selbstsein noch nicht, um eine Ableitung der Ethik aus dem bloßen Wollen oder ihre Reduktion auf einen bloß hypothetischen Imperativ wirksam auszuschließen. Sollen und Sein seien zwar »zielidentisch«, aber es müsse noch der letztlich transzendente »Sollensakzent« hinzutreten (141). Das ethische Subjekt kann sich zwar dem Gesollten versagen (146), verstößt aber damit gegen seine Wesensbestimmung. Denn eigentlich gilt, »daß ich dieser Forderung die Anerkennung nicht verweigern kann, und zwar aus Freiheit nicht verweigern kann« (166). Die unbedingte Forderung im Gewissen muss dann nur noch mit den geschichtlich begegnenden Forderungen vermittelt werden (173).
Der dritte Teil entfaltet im Anschluss an Scheler eine Theorie des Wertes. Werte, differenziert in Real- und Normwerte (209), seien dem Handeln objektiv vorgegeben (204). Doch bedürften sie des Gegenpols der Existentialität der Persönlichkeit, um die Ethik zureichend begründen zu können (220). Die ontologische Vorgegebenheit des Wertes setzt den thomistischen Grundsatz »bonum et ens convertuntur« voraus. Einwände wie Balzacs Spott über den kommerziellen Ursprung des Wertbegriffs werden nicht diskutiert.
Das Buch schließt mit dem Hinweis auf »die Urentscheidungen«, entweder »Gott [zu dienen] oder einem Götzen, und wäre dieser das eigene Ich« (294). Die Alternative objektiver Gotteserkenntnis und subjektivistischer Willkür ist von der neuzeitlichen Strittigkeit des transzendenten Grundes wenig berührt. An­dersdenkende sind uneinsichtig oder fideistisch irregeleitet. Diese Ab­schottungsstrategie lässt das Buch bei aller Gelehrsamkeit merkwürdig ungeschichtlich erscheinen. Sein Grundgedanke ist einfach und klar, wird aber nur demjenigen einleuchten, der entschlossen ist, W.s Voraussetzungen zu teilen.