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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1018-1020

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schmid, Hansjörg, Renz, Andreas, Takım, Abdullah, u. Bülent Ucar [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verantwortung für das Leben. Ethik in Chris­tentum und Islam.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2008. 277 S. 8° = Theologisches Forum Christentum – Islam. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7917-2186-6.

Rezensent:

Anja Middelbeck-Varwick

Die Publikation, die die gleichnamige Tagung des Theologischen Forums Christentum – Islam dokumentiert, widmet sich der Frage, welche »Verantwortung für das Leben« dem Einzelnen und der Gemeinschaft gemäß der islamischen und christlichen Tradition in einer pluralen Gesellschaft zukommt. Im Mittelpunkt steht eine dialogische Suche nach gemeinsamen Positionen zum Wert des Lebens in Familie, Politik, Wirtschaft und Bioethik angesichts komplexer werdender Verantwortungsbereiche. Neben dem Be­mühen um Aktualisierungen traditioneller Maßgaben steht der Versuch, eine theologische Verhältnisbestimmung der jeweiligen ethischen Positionen vorzunehmen und ihre religionsspezifischen Ausprägungen zu markieren. Ebenso wird gefragt, in welchem Verhältnis religiös verankerte Positionen zu säkular geprägten Auffassungen stehen.
Der erste Teil widmet sich den anthropologischen und theologischen Grundlagen der ethischen Verantwortung. Heike Baranzke (Bonn) stellt die Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott als theologisches Spezifikum heraus. Sie betont die Bedeutung gegenwärtigen Handelns und einer richtig verstandenen »Heiligung des Lebens«, die keine besondere Eigenschaft des menschlichen Lebens meine, sondern vielmehr eine dem personalen Anspruch Gottes entsprechende Lebensführung, die zu ermöglichen und zu schützen sei. Angesichts der Differenz von idealen Bildern und fak­-tischen Zuständen des menschlichen Zusammenlebens gelte es, Strukturen der Gerechtigkeit in der Zeitlichkeit einzuschreiben. Ausgangspunkt aller ethischen Reflexion sei die dem Menschen von Gott her verliehene besondere Verantwortung innerhalb der Schöpfung, seine »Verantwortung vor Gott – für die Geschöpfe«. Die Würde und Repräsentanzfunktion des gottebenbildlichen Menschen impliziere die Übernahme verantwortlichen Handelns, in welchem Gott und Mensch aufeinander bezogen seien. Eine solche theologische Anthropologie könne ein Muslim durchaus teilen, betont Abdullah Takım (Frankfurt) und verweist insbesondere auf den koranischen Gedanken der menschlichen Stellvertreterschaft und geschöpflichen Sonderstellung, der einen Personenbegriff, der auf ein freies und vernünftiges Subjekt ziele, einschließe. Takım folgert, das islamische Menschenbild könne im Dialog mit Chris­ten und anderen Gläubigen über Fragen der Ethik fruchtbar ge­macht werden.
Ahmet Hadi Adanali (Ankara), der »Die Quellen der Verantwortung in islamischem Recht und islamischer Theologie« vorstellt, postuliert eingangs, dass die Prinzipien, auf denen rechtliche und ethische Diskurse im Islam basieren, pluralistisch angelegt seien. Dies erörtert er anhand der in der islamischen Rechtstradition bedeutsamen Prinzipien des Schadens, des Nutzens, der Notwendigkeit und der Gegenseitigkeit. Die Erwiderung von Ulrike Bechmann (Graz) ist bemüht, die Anwendbarkeit der von Adanali aus einer Binnensicht heraus dargestellten Prinzipien zu prüfen. Die als universal vorgestellten Prinzipien seien nicht nur auf die eigene Gemeinschaft, sondern auch auf andere zu beziehen und so sei aus der eigenen Tradition heraus eine Begründung zu finden, die die Anerkennung der anderen als andere ermögliche.
Es schließen sich zwölf weitere lohnende Beiträge zu konkreten ethischen Einzelbereichen an, die die Frage der Verantwortung in Partnerschaft, Familie, Staat, Politik, Wirtschaft und Biomedizin aufnehmen und auf die hier nur verwiesen sei.
Das Schlusskapitel erörtert, inwiefern die Ethiken beider Religionen sich konträr, komplementär oder korrigierend zueinander und in Bezug auf den gesellschaftlichen Diskurs verhalten. Die von Maysam J. al-Faruqui (Washington DC) vorgenommene schroffe Kontrastierung religiöser und säkularer Werte und die damit einhergehende Überordnung religiös begründeter Werte, denen allein universale Geltung zukommen würde, ist hierbei wenig zielführend. Der Beitrag von Bülent Ucar (Osnabrück) stellt hingegen eine muslimische Sicht dar, die differenziert die Rolle der Religionen im säkularen Staat auslotet und ihre geschichtliche Dimension bedenkt. Ucar warnt vor einer allzu großen Nähe der Gläubigen zu politischen Machtstrukturen, wenngleich ethische Überzeugungen sehr wohl aktiv in die Gesellschaft einzubringen seien. Die Religion sei vielmehr Inspirationsquelle und kritische Mahnerin der Politik. Um eine gleichberechtigte Partizipation an gesellschaftlichen Debatten zu gewährleisten, sei es notwendig, »selbstbewusste, sprachgewandte, intellektuelle Eliten, die von ihren Ge­meinden akzeptiert und von der Mehrheitsgesellschaft beachtet werden, auszubilden«. Generell werde sich die als wertorientierende Ressource verstandene religiöse Haltung einzelner Gläubiger dann gewinnbringend in das gesellschaftliche Gefüge vermitteln, wenn der Staat seinerseits die Rahmenbedingungen für kulturelle Vielfalt gewährleistet.
Die zusammenführende Reflexion von Andreas Renz (München) und Abdullah Takım zeigt auf, dass beide Religionen darin übereinstimmen, Menschen nie nur als Individuen, sondern stets auch sozial bezogen zu betrachten. Damit stellten ihre Ethiken »ein notwendiges Korrektiv zu individualistischen und reduktionistischen Entwürfen (post-)moderner Menschen- und Gesellschaftstheorien dar« (261). Auch müssten sich beide Religionen in rationaler Argumentation anderen, nichtreligiösen Begründungsverfahren im of­fenen Diskurs stellen. Da der Begriff der Menschenwürde, der zweifelsohne die gemeinsame Basis eines solchen Diskurses darstelle, in seiner normativen Funktion nur eine Minimalbestimmung sei, müsse seitens der Religionen umfassend definiert werden, was gelingendes Menschsein als Ausdruck sich Gott verdankenden Lebens kennzeichne.
Der Sammelband ist seinem eigenen Anspruch, die Vielfalt ethischer Positionen zu spiegeln, gewiss ebenso gerecht geworden wie dem Ziel, die Heterogenität konkreter ethischer Entwürfe innerhalb einer Tradition aufzuzeigen. Dass die Perspektive der christlichen Rückfrage an islamische Positionen sich zuweilen stärker eingetragen findet als ihre Umkehrung, mag ein Signum des christlich-muslimischen Gesprächs sein.
Die Publikation könnte gewiss auch Fragestellungen anderer Bereichsethiken umfassen, doch überzeugt die getroffene Auswahl. Bemerkenswert ist, in welcher Strenge die präsentierten Themen aufeinander bezogen werden: Die Stringenz des Tagungsbandes wird nicht allein durch eine sorgfältige einordnende und kommentierende Rahmung der Beiträge erzielt, sondern auch durch ihre klug konzeptionierte Anordnung: Auf einen islamischen Beitrag folgt ein thematisch korrespondierender christlicher Beitrag. Nicht zuletzt die eingefügten Beobachterberichte, die die Ergebnisse der Diskussionen vorstellen und reflektieren, belegen eine ertragreiche Fortschreibung des christlich-muslimischen Nachdenkens über ein Thema von hoher aktueller Relevanz.