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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1016-1018

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nüssel, Friederike [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. IX, 313 S. 8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-149727-8.

Rezensent:

Franz-Josef Bormann

Der von der Heidelberger Systematikerin F. Nüssel herausgegebene Band dokumentiert die Beiträge der Ringvorlesung »Ethische Probleme der Gegenwart in theologischer Perspektive«, die im Wintersemester 2007/08 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg veranstaltet wurde. Die insgesamt zwölf Abhandlungen spannen einen weiten thematischen Bogen, der von der grundsätzlichen Verortung der Ethik im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie über die Propriums-Frage und die Analyse individual- bzw. sozialethisch relevanter Grundbegriffe wie Freiheit, Gewissen, Verantwortung und Solidarität bis hin zur Auseinandersetzung mit dem sowohl innertheologisch wie gesamtgesellschaftlich rapide zunehmenden Pluralismus und seinen Konsequenzen für das ökumenische Gespräch reicht. Aus der Fülle des dargebotenen Materials seien hier nur einige besonders markante Beispiele hervorgehoben.
So verortet E. Herms in seinem Beitrag das »Grundproblem« aller ethischen Diskussionen darin, »dass einerseits für jede ethische Urteilsbildung jeweils eine Weltanschauung und ein Menschenbild unabdingbar sind, dass aber andererseits die Erfüllung dieser Anforderung jeder ethischen Urteilsbildung heute teils auf erhebliche Schwierigkeiten stößt, also erhebliche Schwierigkeiten schon vorfindet, und teils auch für erhebliche Schwierigkeiten sorgt, sie also selbst erzeugt« (49). In dieser Situation führten zwei verbreitete Strategien von vorneherein in die Irre. Nicht zielführend sei »erstens die Bestreitung der Tatsache, dass ethische Urteile überhaupt auf eine Orientierung an gemeinsamen zielwahlorientierenden Gewissheiten angewiesen sind, und zweitens der Rückzug auf die gemeinsame Anerkennung von rein formalen Regeln der ethischen Orientierung an gewaltfreien Konfliktlösungen« (64). Vor allem die Warnung vor einer Flucht in rein formal-prozedurale Denkfiguren dürfte angesichts der verbreiteten Vulgärrezeption diskursethischer Modelle im Raum der theologischen Ethik mehr als berechtigt sein. Herms zufolge verweist die aufgeworfene metaethische Frage nach der Bedeutung von Weltanschauungen für die ethische Urteilsbildung letztlich auf das sozialethische Grundproblem, wie eine Ordnung auszusehen habe, »in der ein freier öffentlicher Weltanschauungsdiskurs so geführt werden kann, dass die friedensdienlichen Motive weltanschaulicher Überzeugungen für die gesamte Öffentlichkeit zum Zuge kommen« (71).
Sehr grundsätzlichen Fragen der moralischen Epistemologie sind die metaethischen Überlegungen von J. Fischer zum narra­tiven Fundament der sittlichen Erkenntnis gewidmet. Auf dem Hintergrund der Unterscheidung von vier verschiedenen Ebenen der Narrativität vertritt er die These, »dass die sittliche Erkenntnis in letzter Instanz in der Wahrnehmung fundiert ist, mit der wir Situationen und Handlungen erfassen und die wir narrativ thematisieren« (82). Damit versucht er sich nicht nur, von einer »einseitig kognitivistischen Auffassung von Moral und Ethik« (ebd.) abzugrenzen, die zur Begründung unserer moralischen Urteilspraxis allein auf Überzeugungen rekurriert, sondern über die Annahme eines Primats der Praxis (94) auch einen besseren Zugang zum Verständnis theologischer Ethik im Sinne »deskriptive(r) Ethik« (96) zu gewinnen. Ohne die Bedeutung unserer Emotionen und Wahrnehmungen für die Entstehung sittlicher Erkenntnis generell in Abrede zu stellen, dürfte Fischers Annahme einer einseitigen Ab­hängigkeit unserer kognitiven Überzeugungen von unseren emotional basierten Wahrnehmungen jedoch ebenso problematisch sein wie seine Gegenüberstellung von »sozialen Wahrnehmungsmustern« und »natürlichen Eigenschaften«, mit deren Hilfe er den moralphilosophischen Kognitivismus tendenziell in die Nähe einer »naturalistischen Denkweise« (97) zu rücken versucht.
Besondere Aufmerksamkeit dürften auch die beiden dezidiert sozialethischen Beiträge von H. Bedford-Strohm und H.-R. Reuter verdienen. Während Ersterer meint, ausgehend von der partikularen Formel einer »Option für die Armen« die Grundzüge einer öffentlichen Theologie als »Befreiungstheologie für eine demokratische Gesellschaft« entwerfen zu können, die auch »eine neue Basis für den Dialog zwischen den Kirchen des Nordens und den Kirchen des Südens schaffen« könne (176), untersucht Letzterer am Beispiel der EKD-Denkschrift »Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität« (2006) die jüngsten Entwicklungen in der Gerechtigkeitssemantik evangelischer Sozialethik. Dabei kritisiert Reuter nicht nur die inflationär gebrauchte »Eigenverantwortungsrhetorik« insofern als »kommunikationspragmatisch widersprüchlich«, als »die Frage nach den Könnensbedingungen gar nicht erst gestellt wird« (188), sondern weist zu Recht auch darauf hin, dass die neue Rede von einer »Befähigungsgerechtigkeit« »keine Alternative zur Verteilungsgerechtigkeit« darstellt (194), sondern ursprünglich auf die weitergehende Frage reagiert, was eigentlich verteilt werden soll. Er hält es daher letztlich für »problematisch, dass in der Denkschrift die kategoriale Differenz von Teilnahme und Teilhabe, von Beteiligungsgerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit unterbestimmt geblieben ist« (201).
Den zweifellos provozierendsten Text des Bandes hat H. Kress beigesteuert, der sich gegenüber einer rein formalen Spielart der Toleranz, die »menschlich, kulturell und ethisch unbefriedigend« bleibe (230), für »das Leitbild einer materialen … oder dialogischen Toleranz« (238) stark macht. Angesichts seines leidenschaftlichen Plädoyers für eine »Toleranzkultur …, für die die Toleranz im an­spruchsvollen Sinn der tatsächlichen ›Akzeptation‹ (M. Buber) anderer Menschen das Leitbild ist« (233), dürften die dann folgenden, schon im Tonfall völlig unangemessenen Auslassungen über den »Rückschritt an Toleranz auf Seiten der römisch-katholischen Kirche« (236) als peinlicher pragmatischer Selbstwiderspruch zu qualifizieren sein, der freilich umso mehr überrascht, als es Kress bedauerlicherweise unterlässt, für seine aus guten Gründen auch innerprotestantisch hochgradig umstrittenen bioethischen Positionierungen vom Embryonenschutz bis zur Sterbehilfe abgesehen vom stereotypen Verweis auf divergierende Rechtsnormen im Ausland irgendwelche plausiblen ethischen Sachargumente vorzutragen.
Angesichts des damit unverhohlen zutage tretenden ökumenischen Konfliktpotentials ist es erfreulich, dass die beiden abschließenden Beiträge von E. Schockenhoff und U. Körtner immerhin den Versuch unternehmen, die durch das politisch verhängnisvolle Projekt einer »Ökumene der Profile« neu aufgeworfenen ethischen Gräben zwischen beiden Kirchen im direkten Gespräch ehrlich zu benennen und aufzuarbeiten.
Überblickt man den Band insgesamt, dann besticht er nicht nur durch die gelungene thematische Mischung von fundamental- und bereichsethischen Arbeiten, die einen guten Einblick in den aktuellen Zustand der Reflexionskultur theologischer Ethik vermitteln, sondern auch durch seine Bereitschaft, gegenwärtige Konfliktlinien klar zu benennen und so einer akademischen Bearbeitung zugänglich zu machen.