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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1014-1016

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Christian

Titel/Untertitel:

Gott und Politik. Eine Einführung in politische Ethik.

Verlag:

Witten: SCM Brockhaus 2009. 329 S. 8° = Systematisch-Theologische Monographien, 23. Kart. EUR 17,95. ISBN 978-3-417-29556-6.

Rezensent:

Yves Bizeul

Christian Herrmann ist Bibliotheksrat und Fachreferent für Theologie in der Universitätsbibliothek Tübingen. Außerdem ist er Koordinator der Facharbeitsgruppe Systematische Theologie des Arbeitskreises für evangelikale Theologie. Sein Buch »Gott und Politik« ist ein Plädoyer für eine theozentrierte und schriftorientierte politische Ethik. Trotz des Untertitels handelt es sich nicht um eine Einführung in politische Ethik, allenfalls um eine Einleitung in die christliche Ethik der Politik, wobei ein Vergleich mit anderen Einführungen dieser Art, wie z. B. die Werke Martin Ho­-neckers und Christopher Freys, aufgrund zahlreicher Lücken zu Ungunsten des vorliegenden Buches ausfällt.
Das wahre Anliegen H.s ist ohnehin ein anderes. Er versucht nach eigenen Aussagen, die Notwendigkeit einer »christlichen Fun­dierung ethischer Orientierungen« plausibel zu machen. Ohne Gottesbezug bleibt nach H.s Auffassung die politische Ethik nicht nur ohne »letzte Verbindlichkeit«, der Mensch erlebt außerdem einen Verlust an Freiheit, da er »Objekt von Interessen und von Naturgesetzen« wird, er verliert obendrein den Blick für die Bedürfnisse der anderen ebenso wie auch für größere Zusammenhänge. Mit einem Gottesbezug werden das politische Handeln relativiert, die partikularen Interessen transzendiert und das Gewissen ge­schärft.
H. verwirft nicht gänzlich die Vorstellung liberaler Theologen wie Friedrich Naumann von einer Eigengesetzlichkeit des politischen und ökonomischen Lebens. Ein einfacher Biblizismus würde zu einem politischen Donatismus führen, d. h. zu einer Beschränkung des politischen Personals auf den kleinen Kreis der überzeugten Christen. Auch lehnt er eine Trennung von Staat und Kirche nicht völlig ab. Er betrachtet das Modell der Staatskirche als gefährlich, sollte die Kirche dadurch ihre Autonomie verlieren. Seine Vorliebe gilt dem »Christenstaat«, wie ihn der frühneuzeitliche Staatstheoretiker und Reformationshistoriker Veit Ludwig von Seckendorff verstand, also einem Staat, der sein Handeln unmittelbar nach den ethischen Geboten des Christentums ausrichtet. Nur so könne die Politik »lieblichere und gesundere Früchte« (von Seckendorff) tragen. Eine nur indirekte Bezugnahme des Staates auf die Offenbarung, wie sie von Theologen wie Helmut Thielicke und Wolfhart Pannenberg vertreten wird, ist H. zu wenig. Er verlangt eine biblische Orientierung der Politik.
Wie diese konkret auszusehen hat, bleibt allerdings unscharf. H. nimmt zwar zu Abtreibung und Toleranz, zur Nation, zur Demokratie und zu den ethischen Überzeugungen politischer Strömungen – darunter auch der Nationalsozialismus – Stellung. Er beruft sich dabei aber nur selten direkt auf die Bibel. Er gibt selbst zu, dass die Bibel nicht »in den Reigen der sonstigen Erkenntnisquellen und Bezugsinstanzen ein- und beigeordnet werden« kann, und sieht in ihr zuallererst eine kritische Instanz für die Politik. Sie liefert ethische Grundsätze, die dann auch vom politisch denkenden und handelnden Menschen ernst genommen werden sollten. Dennoch lassen sich H.s Ablehnung der Abtreibung und einer zu weitgehenden politischen Toleranz, sein Plädoyer für die kulturell definierte Na­tion (nicht für Nationalismus wohlgemerkt, er lehnt konsequent jede politische Ideologie als Religionsersatz ab) und für eine Demokratie mit einem – wie auch immer – integrierten bib­lischen Korrektiv aus der Bibeldeutung keineswegs zwingend schlussfolgern.
Der Teil zu Karl Barth zeigt deutlich, dass die Interpretation der Bibel verschiedene politische Überzeugungen zulässt. Barth wird von H. einerseits wegen seiner Ablehnung der Eigengesetzlichkeit der religiösen und politischen Handlungsräume gelobt. Zugleich wird er aber auch aufgrund seiner nach Auffassung von H. zu einseitigen Akzentuierung auf Rechtfertigung und »soteriologische Universalisierung« getadelt. Die Ausklammerung der Schöpfungslehre würde nach H. erklären, warum Barth zum Egalitarismus und Sozialismus tendierte. Statt des ersehnten Christenstaats habe Barth laut H. eine verkappte politische Theologie vertreten. Der Vorwurf ist sicherlich berechtigt. Die Frage stellt sich allerdings, ob H. selbst nicht Ähnliches tut, wenn er zwar theoretisch für den »Christenstaat« Stellung nimmt, zugleich aber durch sein Buch seine politischen Ansichten als einzige Wahrheit zu vermitteln versucht.
H. versucht die Richtigkeit seiner eigenen politischen Positionierung durch die Breite seines eigenen theologischen Ansatzes zu beweisen. Er würdigt Luther, da dieser nicht nur die Rechtfertigungslehre, sondern auch die Bedeutung der Schöpfung und des Naturrechts wahrnahm, auch wenn er im Unterschied zu Thomas von Aquin beide vor allem negativ, d. h. als Bruch, dachte. So sollen bei Luther Naturrecht und Gesetz weniger das politische Handeln steuern als die Sünde bewusst machen und dadurch die Notwendigkeit des erlösenden Evangeliums unterstreichen. Luther wird von H. vor allem wegen seiner Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gewürdigt. Sie erlaube es, die Unterschiede zwischen den Menschen ernst zu nehmen und schütze vor dem gegenwär­tigen Egalitarismus. H. versteht die sozialen Unterschiede als fes­-ten Bestandteil der Schöpfung, lehnt aber zugleich zu viel poli­tischen und kulturellen Pluralismus ab. Die postmoderne Toleranz, die der Durchsetzung einer bestimmten Auffassung des Guten im Wege steht, ist ihm ein Dorn im Auge. Er versteht sie als postmoderne Indifferenz und Nivellierung der Geltungsansprüche.
H. will mit diesem Buch vor allem eines: eine religiöse und politische Botschaft verkünden. Er entwirft dafür selbst eine politische Theologie, diesmal von rechts. Die sich am Ende der einzelnen Kapitel befindenden Aufgaben zur Vertiefung sind derart suggestiv formuliert, dass nur eine einzige Antwort – diejenige von H. – zu erwarten ist. Sie dienen weniger dem Selbst- und Fortdenken als der Internalisierung eines religiösen und politischen Bekenntnisses. Dem Buch fehlt es jedoch an didaktischer Klarheit, um ein neuer »Kleiner Katechismus« zu werden. Die einzelnen Kapitel tragen unnötig komplizierte und manchmal sonderliche Titel. So fragt man sich z. B., was »theologische Bezüge konkreter Parteiprogram­matik« mit »politischer Theoriebildung« zu tun haben.
Trotz aller Defizite verdient das Buch gelesen zu werden. Einige Gedanken sind zwar nicht neu, aber wichtig, so die Notwendigkeit der Relativierung des politischen Handelns, die enge Verbindung von Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit, die Hervorhebung der Bedeutung der Schöpfungslehre für die Politik oder die Notwendigkeit, sowohl eine »säkulare Füllung der Zweireichelehre« als auch den Quietismus des Pietismus zu überwinden. Die einfache, in evangelikalen Kreisen sehr verbreitete Legitimierung politischer Macht durch den Rekurs auf Röm 13 wird hier problematisiert. Dies führt H. zu folgender bedeutender Aussage: »Zwar ist der Staat als solcher von Gott gewollt und eingesetzt. Aber er kann sich verselbstständigen, sich von Gott loslösen und schließlich selbst zum Gott erklären.« H. hat angesichts des dramatischen Versagens zahlreicher Christen während des Nationalsozialismus Recht, wenn er von ihnen einen kritischeren und distanzierteren Blick auf die Politik verlangt.