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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1013-1014

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Christian, u. Martin Thurner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Passiones ani­mae. Die »Leidenschaften der Seele« in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2009. 212 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, 52. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-05-004608-2.

Rezensent:

Catherine Newmark

Die derzeitige Konjunktur der Forschung über Gefühle hat auch die Philosophie- und Theologiegeschichte erreicht und die letzten Jahre haben im deutschsprachigen Raum eine ganze Reihe von Studien zu Einzelautoren, aber auch Überblickswerke und Sammelbände hervorgebracht. Trotzdem sind auf dem Gebiet der Theoriegeschichte der Emotionen noch viele Lücken zu füllen. Einen erfreulichen Beitrag dazu leistet der von Christian Schäfer und Martin Thurner herausgegebene Band, der auf eine Tagung des Martin-Grabmann-Forschungsinstitutes der Universität München zurückgeht.
In zehn Einzelbeiträgen werden wichtige Denker der Philosophie- und Religionsgeschichte vorgestellt, von Augustinus bis Cusanus. Der Vorteil eines solchen Sammelwerks liegt unbestreitbar darin, dass die einzelnen Aufsätze immer aus einer vertieften Kenntnis der jeweiligen Autoren heraus geschrieben sind. Der potentielle Nachteil, dass nämlich nicht jeder Beitrag aus einer profunden Kenntnis der philosophischen Emotionsforschung heraus geschrieben ist, belastet den Band hingegen kaum. Die Texte bieten fast durchgängig konzise und erhellende Einführungen in das Emotionsdenken mittelalterlicher Philosophen. Dass wichtige und mittlerweile auch einigermaßen gängige Grundsatzüberlegungen zum klassischen philosophischen Gebiet der Emotions­lehre und zur Terminologie – Leidenschaften, affectus, passiones – sich bei den verschiedenen Autoren immer wiederholen, mag man dem Band nicht ankreiden.
Er beginnt mit einer anschaulichen Einführung in Augustinus’ christliche Vermittlung zwischen antiken peripatetischen und stoischen Theorien (Johannes Brachtendorf). Es folgen informative Darstellungen der stark an stoische Vorbilder angelehnten frühmittelalterlichen Autoren Johannes Damascenus (Christian Schäfer) und Bernhard von Clairvaux (Ulrich Köpf), welche die Kontinuitäten von hellenistischen zu mittelalterlichen Emotionslehren herausstreichen. Rainer Jehl behandelt Bonaventuras besonders interessante Affektenlehre, die ebenfalls aristotelische und stoische Motive aufnimmt und weiterführt, aber als einzige die platonisch-aristotelische Unterscheidung von begehrendem und »aufbegehrendem« oder »zornfähigem« Vermögen (vis concupiscibilis und vis irascibilis) nicht nur dem sinnlichen Teil der Seele zuschreibt, sondern auch dem rationalen – also dem Willen, dessen reinliche Scheidung von den Emotionen, um die sich die meisten Philosophen bemühen, damit untergraben wird.
Auch die Ansätze zur Affektenlehre bei Albert dem Großen, die in der Philosophiegeschichte durchgehend hinter die weitaus vollständigeren Bemühungen seines Schülers Thomas von Aquin zurücktreten, bekommen eine klare systematische Behandlung durch Jörg Alejandro Tellkamp, der sich aus zeitgenössischer Perspektive heraus fragt, ob Alberts Theorie der Affekte kognitiv zu nennen sei (eine Frage, die er bejaht). Etwas schade ist dann, dass im Vergleich zu dieser klaren philosophischen Diskussion die Behandlung von Thomas von Aquins Affektenlehre – dieser systematischsten aller aristotelischen Psychologien – durch Eberhard Schockenhoff fast ausschließlich an theologischen Fragen orientiert ist. So interessant diese Perspektive auch ist, man vermisst eine philosophische Darstellung der fundamentalen Begriffe, mit de­nen Thomas die Affektenlehren bis mindestens ins 18. Jh. maßgeblich geprägt hat.
Neben den bereits erwähnten Texten enthält der Band auch informative Abhandlungen zu den Affekten bei David von Augsburg (Marianne Schlosser) und Wilhelm von Ockham (Gerhard Leibold). Außerdem, und das gibt dem Band noch eine schöne weitere Dimension, wurden mit Mechthild von Magdeburg (Irmgard Gephart) und Nikolaus Cusanus (Martin Thurner) auch zwei Mystiker mit aufgenommen, deren Behandlung der Emotionsfrage nicht eine systematisch philosophische oder theologische ist, sondern sich um die Beschreibung von religiösen Gefühlen wie Freude oder Gotteshingabe dreht. Die enorme Ausdehnung dessen, was unter der Thematisierung von Emotionen alles zu stehen kommen kann, wird damit von dem Band zumindest in zwei Extremen abgemessen: von der systematischen Psychologie aristotelischer Prägung bis hin zur mystischen religiösen Selbstbeschreibung. Die psychologische Analyse der Emotionen, die in der Philosophiegeschichte überwiegt, ist längst nicht das letzte Wort in Emotionsangelegenheiten, das zeigen diese Aufsätze sehr schön.