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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

1001-1013

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Knoll, Manuel

Titel/Untertitel:

Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption.

Verlag:

München: Fink 2009. 325 S. gr.8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7705-4858-3.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die Philosophin Martha Nussbaum, Universität Chicago, entwi­ckelt im Rückgriff auf Aristoteles die Grundlage einer globalen Ethik, die den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit in ihren Fokus nimmt. Diese als aristotelischer Sozialdemokratismus bezeichnete Auffassung steht im Gegensatz zur konservativen Aristoteles-Rezeption von Hannah Arendt, Dolf Sternberger, Leo Strauss, Eric Vogelin oder Joachim Ritter und seiner Schule. Manuel Knoll hinterfragt das Anliegen Nussbaums und arbeitet deshalb im ersten Teil seiner Untersuchung Aristoteles’ politische Philosophie heraus (49–210). Dem stellt er im zweiten Teil Nussbaums Aristoteles-Interpretation gegenüber (211–270) und fragt dann im dritten Teil nach der Aktualität des aristotelischen Ansatzes (271–314).
Angesichts der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Aristoteles entscheidet sich K., von den ethischen Schriften nur die »Nikomachische Ethik« zu berücksichtigen, da sie zweifelsfrei von Aristoteles stammt. Bei der »Politik«, in der die Verfassungslehre zentral ist, schließt sich K. deren unitarischer Betrachtungsweise an, die die Einheit dieser Schrift betont. Bei der wichtigen Frage, welche der drei guten Verfassungen – Königtum, Aristokratie, Politie – Aristoteles als die beste schätzt, schließt sich K. nicht den Deutungen von Dolf Sternberger, Otfried Höffe und Günther Bien an, die für die Politie plädieren, die mit der modernen Demokratie viele Merkmale teilt, was auch Nussbaum vertritt. K. schließt sich der Auffassung angelsächsischer Philosophen an, wie David Keyt und Fred D. Miller, die für die Aristokratie als beste Verfassung votieren. Denn »aristokratia« ist nicht ständisch oder feudal zu verstehen, sondern bezeichnet die »Herrschaft der Besten und Tüchtigsten« (21), die zudem in ihrer Ungleichheit gesehen sind. Es geht K. darum, am Sachverhalt der Verteilungsgerechtigkeit den in der deutschen Literatur kaum berücksichtigten Sachverhalt von Ethik und politischer Philosophie herauszuarbeiten. Aristoteles spricht sich gegen die arithmetische Gleichheit zugunsten einer aristokratisch begründeten Verteilung aus, »die proportional zum ungleichen sozialen Rang und Wert der Menschen verfährt« (22). K. sieht diese politische Philosophie – gegen Joachim Ritter und Günther Bien – naturrechtlich begründet, da er Aristoteles eine teleologische Naturauffassung als hierarchische Zweck-Mittel-Ordnung unterstellt, »in der das jeweils bessere und höhere Glied zur Herrschaft über das schlechtere und ihm untergeordnete bestimmt ist« (23). Damit verteidigt K. das traditionelle Aristoteles-Verständnis gegen Nussbaums »aristotelischen Sozialdemokratismus« (25) mit seiner Entscheidung für eine arithmetische Verteilung. K. bejaht also die aristokratische politische Theorie im Sinn einer demokratischen Eliteherrschaft und spricht sich gegen den Egalitarismus Nussbaums zugunsten eines Nonegalitarismus aus, wie er von Aris­toteles begründet worden sei.
Folglich sind für Aristoteles in der aristokratischen Polis »das wahre Gemeinwohl und das Wohl der Besten und der Regierenden letztlich identisch« (62). Da Aristoteles die Tüchtigkeit (arete) für den entscheidenden Wertmaßstab im Zusammenhang »der Verteilung der Regierungs- und Herrschaftsgewalt« (100) der Polis erachtet, präferiert seine aristokratische Konzeption Männer, die durch ihre freie Geburt und einen gewissen Wohlstand ausgezeichnet sind. Durch sie sieht er die Verwirklichung des mit dem guten und glückseligen Leben ihrer Bürger identischen wahren Gemeinwohls ermöglicht, da sie als die tüchtigsten Bürger gemäß der naturrechtlichen Ordnung auch entsprechend handeln.
K. benennt als das zentrale Problem von Nussbaums Interpretation der politischen Philosophie Aristoteles’, dass sie von einer gemeinsamen Menschlichkeit aller Menschen ausgeht »und sich egalitaristisch um Gleichheit unter den Menschen bemüht« (211). Aristoteles dagegen betont die fundamentale Ungleichheit der Menschen in ihren Ständen und ihrer natürlichen Rangordnung. Außerdem legt sich für ihn eine aristokratische Staatsform nahe, während Nussbaum die politische Partizipation als Demokratie vertritt. Daraus zieht K. das Fazit, Nussbaum beziehe sich zu Unrecht auf Aristoteles. Folglich hält K. Nussbaums vielbeachteten »Fähigkeiten-Ansatz, dem zufolge vorhandene Grundfähigkeiten ›der Menschen‹ einen moralischen Anspruch auf ihre Entfaltung ›in der Gesellschaft‹ hervorrufen« (268), aufgrund ihrer starken Differenz zu Aristoteles nicht für eine aristotelische Konzeption, wohl aber als Fortentwicklung und philosophische Abstützung des Ansatzes des Entwicklungsökonomen Amartya Sen. In dieser Hinsicht lege Nussbaum einen wichtigen »Beitrag zur zeitgenössischen Philosophie« (270) vor.
Im dritten Teil fragt K. nach der »Aktualität der politischen Philosophie des Aristoteles« für eine heutige westliche Demokratie gerade vor dem Hintergrund der »aktuellen Debatten über den Egalitarismus und den neuen Nonegalitarismus« (271), wie er etwa von Elizabeth Anderson, Harry Frankfurt, Derek Parfit, Joseph Raz oder Michael Walzer vertreten wird. K. hält fest, dass Aristoteles’ aristokratische Ordnung aufgrund der anthropologischen Überzeugung von der Ungleichheit der Menschen heute als ungerecht dargestellt wird, da sie durch ihre Verneinung der menschlichen Gleichheit zum Ausschluss vieler führt. Die Relevanz des Aristoteles lässt sich allerdings von dem Gedanken einer demokratischen Eliteherrschaft in den Blick nehmen: Denn hier übt »die Gruppe der besten und tüchtigsten Bürger im politischen System die Macht« (287) aus, womit auch die Eliteherrschaft ethisch gerechtfertigt sei. Zwar stehen der Verwirklichung des Zieles einer demokratischen Herrschaft der moralisch und intellektuell besten Bürger viele Schwierigkeiten im Weg, die auch das Institut der freien Wahlen nicht aufheben kann. Aber als Weg zur Herrschaft der Besten erwägt K. das Modell der französischen Elitehochschule ENA, der er jedoch eine Reform verordnen möchte, damit das dortige Studium um Fächer erweitert würde, »die zur Persönlichkeitsbildung und zur ethischen und politischen Orientierung des Handelns beitragen« (292). Eine solche Hochschule könnte dann zum Vorbild der Elitebildung für andere Staaten werden.
Als Fazit hält K. fest, dass die aristotelische Konzeption der proportionalen Verteilungsgerechtigkeit nicht mit dem gegenwärtigen Egalitarismus und seiner Präferenz der arithmetischen Gleichheit vereinbar ist. Damit stehen sich Egalitarismus und Nonegalitarismus für K. als unvereinbare ethische Grundpositionen ge­genüber. Mit Max Weber vertritt er die Auffassung, dass jeder Mensch an dieser Stelle eine persönliche Entscheidung treffen müsse, weil es kein wissenschaftliches Verfahren zur Lösung der hier anstehenden Wertfrage gebe. Die Präferenz K.s für die aristotelische Position nach seiner Deutungsmethode ist deutlich. Er hat seine Denkvoraussetzungen klar benannt und argumentiert abgewogen von ihnen aus – und gibt das Thema der Verteilungsgerechtigkeit den Leserinnen und Lesern zur weiteren Aufgabe, denn die Fragestellung nach der Möglichkeit einer globalen Ethik bleibt hochaktuell und von K. nicht beantwortet. – Leider ist dem Buch kein Register beigegeben worden.