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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

996-997

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Gerrens, Uwe

Titel/Untertitel:

Rüdiger Schleicher. Ein Leben zwischen Staatsdienst und Verschwörung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 254 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-579-08037-6.

Rezensent:

Martin Greschat

Rüdiger Schleicher begegnet in der Regel nur am Rande von Berichten oder Darstellungen über die Familie Bonhoeffer. Hier hat nun sein Biograph umsichtig die relativ wenigen direkten und vor allem die indirekten Quellen zu seinem Leben zusammengetragen.
Schleicher wurde 1895 in Stuttgart geboren und wuchs in einer gut situierten bildungsbürgerlichen Familie auf. Bereits in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs erlitt er eine schwere Verwundung, die ihn dauerhaft gesundheitlich belastete. Hochmusikalisch und philosophisch versiert, entwickelte sich Schleicher zu einem entschieden linksliberalen Juristen, der sich aus Überzeugung zur Weimarer Republik bekannte. Er war entschlossen, diesem Staat korrekt und hingebungsvoll als Beamter zu dienen. Zuletzt leitete er die Rechtsabteilung im Bereich Luftfahrt im Verkehrsministerium.
Entscheidende Bedeutung für Schleichers Lebensweg besaß seine Begegnung mit Ursula Bonhoeffer, der älteren Schwester Diet­richs. Sie heirateten 1923. Schleicher wurde ebenso schnell wie umfassend in die Familie Bonhoeffer integriert. Alle waren sie entschiedene Gegner des Nationalsozialismus. Schleicher trat trotzdem in die Partei ein, um seine berufliche Position zu behalten. Nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944 wurde er im Ok­-tober verhaftet, am 2. Februar 1945 als Mitwisser der Verschwörung zum Tode verurteilt und am 22. April, wenige Tage vor der Eroberung Berlins durch die Rote Armee, von der SS ermordet.
Schleicher stand im Widerstand in der zweiten Reihe. Er war kein Aktivist, wohl aber ein Mitwisser, der an seinem Platz zu kooperieren versuchte. Die Bedeutung der Erinnerung an seine Persönlichkeit für das Verständnis des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus liegt in einem Doppelten. Zum einen verdeutlicht diese Biographie einmal mehr die große Bedeutung von Milieus für die Entwicklung und Stabilisierung von Widerständigkeit. Analog zu bestimmten kommunistischen oder auch katholischen Milieus war es im Umfeld der Familie Bonhoeffer nahezu selbstverständlich, sich der Opposition gegen Hitler anzuschließen. Man mag spekulieren, ob Schleichers Leben ebenfalls im Widerstand geendet hätte, wenn er eine Position als Jurist in seiner württembergischen Heimat bekleidet hätte. Zum andern belegt dieses Buch erneut die geistig-geistliche Breite des politischen Widerstandes aus christlicher Verantwortung. Obwohl sich Schleicher zu den »Dahlemiten« hielt, der entschiedenen Richtung der Bekennenden Kirche, war er theologisch ein »Kulturprotes­tant«: Wesentliche Bedeutung besaßen für ihn Musik, Philosophie und vor allem das Recht. Die Theologie Karl Barths beeinflusste ihn nicht, auch nicht diejenige seines Schwagers Dietrich Bonhoeffer – trotz mancher Gespräche über diese Themen. Schleicher setzte dagegen die zentrale Relevanz des Naturrechts. Was ihn allerdings von der Opposition bis zur Bereitschaft zum politischen Widerstand leitete, war auch für Rüdiger Schleicher die persönliche verpflichtende Bindung an eine andere, höhere und insofern metaphysische Wahrheit und Wirklichkeit als die des »Dritten Reiches«.