Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2010

Spalte:

993-994

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Dramm, Sabine

Titel/Untertitel:

V-Mann Gottes und der Abwehr? Dietrich Bonhoeffer und der Widerstand.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005. 303 u. XXXII S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-579-07117-6.

Rezensent:

Christoph Strohm

Dietrich Bonhoeffer gehört nicht nur zu den meistgelesenen, sondern auch zu den am eingehendsten untersuchten und interpretierten Theologen deutscher Sprache. Ein neues Buch über Bonhoeffers Be­teiligung am Widerstand gegen Hitler ruft darum so­gleich die Frage hervor: Handelt es sich um ein Werk, das Bekanntes für breitere Leserschichten neu präsentiert, oder werden neue Er­kenntnisse und Deutungen geboten? Sabine Dramms Darstellung der Widerstandstätigkeit Bonhoeffers in den Jahren 1939 bis 1943 leistet beides.
In 18 Kapiteln, die mit knappen, locker formulierten Titeln überschrieben sind, geht die Vfn. die chronologische Abfolge der Dinge durch. Abgesehen von der Erhellung manchen Details (so zum Beispiel das Verhältnis zu Ewald von Kleist-Schmenzin, 66) liegt der Wert des Buches in einem vierfachen Ertrag. Es bietet erstens eine willkommene Gesamtschau der mangels erhaltener Quellen nur schwer zu rekonstruierenden Widerstandsaktivitäten Bonhoeffers. Dabei wird die umfangreiche neuere Literatur zum Widerstand, zum Kirchenkampf sowie der Bonhoeffer-Forschung verarbeitet. Zweitens kann die Vfn. Bonhoeffers späte Ethik-Ma­nuskripte, deren genauere Datierung erst in den letzten Jahren gelungen ist, plausibel und anschaulich auf die Herausforderungen der Verschwörung beziehen. So erhellt der Kontext der Be­-mühungen um ein Handeln führender Militärs angesichts der Kriegssituation des Jahres 1941 Bonhoeffers Rede vom »Wagnis der Verantwortung« sehr plastisch (96–112). Nicht minder deutlich werden die unterschiedlichen Konkretionen der Reflexionen Bonhoeffers auf das Thema »Schuld«. Nicht nur die mit dem Verrat der Angriffstermine und den Vorbereitungen einer Tötung Hitlers verbundene Schuld stand den Beteiligten klar vor Augen. Auch die im deutschen Namen begangenen Verbrechen und die Hilflosigkeit angesichts des Abtransports der Berliner Juden in die Vernichtungslager im Jahre 1941 stellten das eigene Versagen und die Schuld über die Maßen belastend vor Augen (vgl. 135 f.). Selbst die unter waghalsigen Umständen von Hans von Dohnanyi organisierte Rettung einiger weniger jüdischer Familien im Rahmen des sog. Unternehmens U 7 (vgl. 130–135) konnte diese Wahrnehmung kaum ändern.
Drittens kann die Vfn. vielfach vorhandene Tendenzen, Bonhoeffers Anteil am »politischen Widerstand« und den Umsturz­-vorbereitungen überzubewerten, begründet zurückweisen. Dies ge­lingt ihr durch die Berücksichtigung der vielfältigen neueren Literatur zum Widerstand gegen Hitler. Insbesondere die Arbeiten von Heinz Eduard Tödt, Elisabeth Chowaniec, Winfried Meyer und Marikje Smid haben zu Recht die zentrale Bedeutung Hans von Dohnanyis für den Widerstand herausgestellt. Bonhoeffers Anteil ist hingegen ein sehr begrenzter. Auch der Ertrag der Auslandsreisen im Auftrag der Abwehr wird mit guten Gründen als eher gering eingeschätzt (keine ursächliche Wirkung der Norwegen-Reise 1942 für die Freilassung Bischof Berggravs, vgl. 144–157). Hier trägt die Vfn. nun viertens zu einer Profilierung der Rolle Bonhoeffers bei. Zwar hat Eberhard Bethge in seiner großen Biographie bereits darauf hingewiesen, aber die Vfn. kann die Bedeutung Bonhoeffers als eines geistlichen bzw. theologischen Gesprächspartners für am Widerstand Beteiligte herausarbeiten. Dies gilt zuerst für Hans von Dohnanyi, dessen engster Gesprächspartner (neben seiner Frau) Bonhoeffer in diesen Jahren wurde und dem Bonhoeffer neben ethischem Rat auch den Trost christlicher Gewissheit angesichts einer in die Verzweiflung weisenden Lebenserfahrung zu vermitteln wusste (vgl. 105 f.). Aber auch Oberst Hans Oster, Sohn eines Pfarrers, scheint das Gespräch mit dem Theologen und Pfarrer Bonhoeffer in erheblichem Maße geschätzt zu haben (vgl. 47).
Nur an sehr wenigen Stellen müssen Einwände gegen die Deutungen der Vfn. formuliert werden. So erscheint in ihrer Darstellung Bonhoeffers im April 1934 geäußerte Bemerkung, dass die gegenwärtige kirchliche »Opposition nur ein ganz vorläufiges Durchgangsstadium zu einer ganz anderen Opposition ist, und daß die Männer dieses ersten Vorgeplänkels zum geringsten Teil die Männer jenes zweiten Kampfes sind« (zit. 25), als eine Art Prophezeiung eines politischen oder auf Umsturz gerichteten Widerstands. Der ebenfalls zitierte nächste Satz zeigt jedoch, dass die Aussage im Kontext der Wiederentdeckung der Bergpredigt zu interpretieren ist. »Und ich glaube, die ganze Christenheit muß mit uns darum beten, daß das ›Widerstehen bis aufs Blut‹ kommt und daß Menschen gefunden werden, die es erleiden« (zit. ebd.). Im Unterschied zu den meisten Mitstreitern in der Bekennenden Kirche hielt Bonhoeffer eine Begrenzung auf einen sog. rein kirchlichen Widerstand bei gleichzeitiger Betonung der politischen Loyalität für eine Illusion. Vielmehr müsse die Kirche auf Gottes Verheißungen vertrauen und ohne Kompromisse sein Wort verkünden. Gerade durch das Leiden, das sie im Konflikt mit dem unrechtmäßigen Handeln des Staates auf sich nimmt, macht sie diesen als Unrechtsstaat offenbar. Solche kritischen Rückfragen ändern aber nichts an der durchgehend differenziert abwägenden, die neueste Literatur berücksichtigenden und überzeugenden Interpretation der Vfn.