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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

989-991

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Luther, Martin

Titel/Untertitel:

Erfurter Annotationen 1509–1510/11. Hrsg. v. J. Matsuura.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2009. CCLX, 727 S. m. Abb. 4° = Archiv zur WA der Werke Martin Luthers. Texte und Untersuchungen, 9. Lw. EUR 120,00. ISBN 978-3-412-20390-0.

Rezensent:

Martin Brecht

Dass die Edition der Randbemerkungen Luthers aus der Zwickauer Ratsschulbibliothek (WA 9, 1–114) dringend einer Revision be­durfte, war den Experten einigermaßen bewusst. Der Standard an Informationen über diese Texte war einfach nicht mehr ausreichend oder gar unrichtig und die nonverbalen Markierungen (An­streichungen, Hinweise, Unterstreichungen oder Strichführung sowie Tintenfarbe) waren gänzlich unberücksichtigt geblieben. 1984 hatte zudem Jun Matsuura, an sich Germanist in Tokio, auf weitere Randbemerkungen zu Ockham in der Staatsbibliothek Berlin aufmerksam gemacht (AWA 5, 305–332). Inzwischen hat er auch noch Randbemerkungen zu Bonaventura und Giorgio Valla gefunden. Das alles wird nunmehr nach 500 Jahren als das früheste Schrifttum Luthers von Matsuura aufgrund von ungemein aufwändigen und intensiven Recherchen in einem stattlichen Band neu ediert. Die deutsche sowie lateinische sprachliche Gestaltung sind dabei einwandfrei. Die Orientierung über die Forschung ist gegeben. In den zahlreichen Quellen und Literaturverweisen samt ihren Abkürzungen kann man sich rasch zurechtfinden. Die Be­zugstexte der Anmerkungen werden voll und sachgemäß in ihrer einstigen Sprachgestalt, also nicht nach modernen Editionen, geboten. Die Einrichtung der Quellentexte samt den nonverbalen Markierungen lässt sich leicht erfassen und anhand des doppelten Apparats unschwer begreifen. Auf diese Weise kann man annähernd nachvollziehen, welchen Eindruck die jeweiligen Textaussagen auf den rezipierenden Luther gemacht haben. Gegenüber der nunmehr kaum noch brauchbaren früheren Edition sind zahlreiche, teils erhebliche Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen worden. Ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnisse sowie Register erschließen den Band. Die neue Edition ist als beispielgebend zu qualifizieren. Die Lutherforschung ist dem Herausgeber für diese Verbesserung ihrer Grundlagen, gerade was die Anfänge Luthers anbetrifft, zu großem Dank verpflichtet.
Die Präsentation des Bandes folgt am besten der wohldurchdachten Einleitung. Die Bände mit den Randbemerkungen gehörten ursprünglich zur Bibliothek des Augustinereremitenklosters Erfurt. Teils sind sie in Erfurt verblieben oder von da als Cimelien nach Zwickau geraten, teils wie so manches andere auch von der Berliner Bibliothek geschluckt worden.
Wie einem einleuchtend klargemacht wird, sind die Annotierungen im Zusammenhang mit Luthers theologischer Lehrtätigkeit in Erfurt 1509 erfolgt und haben ihren Schwerpunkt nicht von ungefähr in den Sentenzen des Petrus Lombardus. Damit erschließen sich der »Sitz im Leben« und die Aussagerichtung dieser Texte in Luthers eigenem theologischen Studieren im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit. Informationen über Luthers innere Entwicklung oder Frömmigkeit erhält man darum, wenn überhaupt, eher indirekt. Nicht zuletzt die nonverbalen Markierungen lassen immerhin erkennen, was bei der Lektüre Luthers seine Aufmerksamkeit erregt hat. Der zeitliche Endpunkt der Entstehung der Anmerkungen im Frühjahr oder (mit Unterbrechungen) im Sommer 1511 bleibt wegen der derzeitigen Unsicherheit über die Ansetzung von Luthers Romfahrt offen. Einen schon früher beobachteten Wechsel in Luthers Schreibung des Buchstaben p nutzt der Herausgeber zur zeitlichen Anordnung der Annotationen, sofern nicht beide Schreibweisen im selben Band vorkommen. So sehr die Argumentation des Herausgebers einleuchtet, wäre mir aus eigener Erfahrung die Heranziehung eines professionellen Paläografen zu dieser Problematik wünschenswert erschienen, um wirklich auf der sicheren Seite zu sein.
Was die Annotierungen über Luthers Arbeitsweise verraten, versucht die Edition durchsichtig zu machen. Dabei ist zu klären, welche Handbibliothek Luther zur Verfügung stand. Die jeweils in­- frage kommenden Drucke wurden vom Herausgeber ermittelt und angegeben. Luthers Anmerkungen finden sich zum Teil auch in anderen Ausgaben des jeweiligen Textes oder in den vom Senten­zentext zitierten Quellen. Dabei zeigt sich: Luther ist durchaus auf die Quellen selbst zurückgegangen und die neben den Sentenzen annotierten patristischen oder scholastischen Autoren sind von ihm gerade in diesem Zusammenhang gelesen worden, so dass sich gegenseitige Bezugnahmen feststellen lassen. Ob und auf welche Edition eines Autors Luther sich bezogen hat, ist freilich nicht immer mit Sicherheit festzustellen. Luther konnte nachweisbar auch selbständig Stellung beziehen und das mit einer Intuition, die an die Qualität moderner Editionen herankam. Ebenso verhält es sich auch mit manchen seiner theologischen Urteile. Der Herausgeber hat sich auch in den anderen alten Erfurter Bibliotheken umgesehen und Entsprechungen entdeckt. Aber wie viel Zeit und Gelegenheit Luther für die Ausleihe aus fremden Bibliotheken gehabt hat, ist doch sehr fraglich, zumal was dann gar nur handschriftlich überlieferte Werke anbetrifft. Und sollten solche Be­nutzungen stattgefunden haben, hätte er wohl doch in den eingesehenen Büchern schwerlich ganz auf eigene Annotierungen verzichtet. Die von ihm durchgearbeiteten Texte hat Luther ergänzt und korrigiert mit Stellenangaben, mit Eingriffen in die Anordnung des Textes oder Markierung der Gliederung, aber auch inhaltlich, grammatisch oder durch die Emendation von Druckfehlern.
Insgesamt wird also auch hinsichtlich der theologischen Literatur ein kritisches Interesse an einer ursprünglichen Textgestalt und ihrer Verbesserung erkennbar, das sich allerdings auch bei nicht wenigen humanistischen Zeitgenossen findet. Am häufigs­ten sind die den schon als Ordensvater besonders geschätzten Augustin betreffenden Anmerkungen in seinen eigenen Schriften (Opuscula, dazu De trinitate und De civitate dei) sowie in den Sentenzen. Es lässt sich beobachten, welche seiner Schriften Luther gekannt hat. De spiritu et litera, das für Luther später wichtig wurde, scheint noch nicht dazuzugehören. In der Frequenz folgen die Anmerkungen zu Hilarius (De trinitate). Ansonsten ist ein Interesse an den patristischen Bibelkommentaren bemerkbar. Für Bernhard von Clairvaux lässt sich zumindest eine gewisse Sympathie erkennen. Von den scholastischen Autoren sind verschiedene Sentenzenkommentare hervorzuheben. Luther weiß sich (mit Biel) dem Nominalismus Ockhams zugehörig, gegen Duns Scotus richten sich hingegen starke Aversionen. Während gegenüber der Philosophie deutlich Vorbehalte geäußert werden und an Aristoteles Kritik geübt wird, meldet sich bereits die Vorliebe für die biblische Wahrheit. Kenntnisse des Hebräischen (nach Reuchlin) lassen sich belegen, solche des Griechischen kaum.
Den Annotationen jedes von Luther annotierten Bandes ist nochmals eine spezielle Einleitung vorangestellt. Besonders intensiv ist die Annotierung zur Trinitäts- und Gotteslehre im ersten Buch der Sentenzen. Gerade über diese Thematik hat sich Luther auch bei anderen Autoren kundig gemacht. Für Luthers Theologie dürfte das bereits konstitutive Bedeutung gehabt haben. Aber auch die eigenständigen Bemerkungen zur Schöpfungs-, Sünden- und Gnadenlehre im zweiten Buch lassen immer wieder aufhorchen. Im dritten Buch sei auf die Erwägungen zur Auslegung von Röm 1,17 sowie auf die über die fides hingewiesen (539 f. und 544–549). Um die Textgestalt von Ockham, De sacramento altaris, und das Verhältnis von Luthers Korrekturen dazu hat sich der Herausgeber besonders bemüht.
Wie gezeigt, lässt das rundum erneuerte Instrument der Lutherforschung kaum Wünsche offen und verdient darum großen Dank. Als weiterführende Überlegung hätte man vielleicht noch einen Vergleich mit Luthers alsbald anschließenden weiteren und auch seinen späteren Annotierungen, beispielsweise denen zu Hieronymus (AWA 8), anschließen können. Dabei hätte sich etwas von der erstaunlichen Kontinuität seines Rezeptionsverhaltens beim Lesen gezeigt.