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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

987-989

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. 522 S. gr.8° = Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, 29. Geb. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-149017-0.

Rezensent:

Ernst Koch

Der Titel dieses inhaltlich gewichtigen Werkes gibt einer These Ausdruck, deren Ausarbeitung Thomas Kaufmann sich bereits in mehreren Anläufen gewidmet hat, nämlich dass Konfessionalität in der Frühen Neuzeit als Ausprägung einer je spezifischen Kultur, also nicht nur von ihrer theologischen »Innenseite« her zu verstehen ist. Dass diese These an der kulturellen Gestalt der von Wittenberg ausgehenden Reformationsbewegung exemplifiziert wird, liegt von bisher vorliegenden Arbeiten K.s her nahe. Er möchte dabei »weder primär von … theologischen Lehrgehalten, noch von … institutionellen Lebensgestalten ausgehen, sondern bei den Kontexten und Konflikten« ansetzen, in denen lutherische Konfessionalität sich behauptet und entwickelt hat (VII), und wünscht sich vom Ergebnis seiner Arbeit, sie möge der allgemeinen geistes- und kulturgeschichtlichen Frühneuzeitforschung noch stärker den Blick für das von ihm umschriebene Feld öffnen.
Das Buch thematisiert vier Themenkreise: Krisen – Kontroversen – Konsolidierungen – Kairos. Unter dem Thema Krisen kommen Apokalyptik und politisches Denken im Luthertum in der Mitte des 16. Jh.s, der Umkreis der beginnenden Normativierung der Schriften Luthers, ansetzend bei Joachim Mörlin, sowie die theologische Bewertung des Judentums zur Sprache (Kapitel 2 bis 4). Das Thema Kontroversen umgreift die Bilderfrage und die Anti-Jesuitenpublizistik bis 1618 (Kapitel 5 und 6). Konsolidierungen werden an den Entwicklungen eines neuen Pfarrerbildes, an der Gutachtertätigkeit der Theologischen Fakultät Rostock und an den Reaktionen auf den Religionsfrieden von 1555 aufgezeigt (Kapitel 7 bis 9). Als Kairos wird die Deutung der Wende vom 16. zum 17. Jh. verstanden (Kapitel 10).
Zu den meisten der aufgegriffenen Themen liegen mehr oder weniger umfangreiche Vorarbeiten von K. vor. Sie sind, sofern sie hier aufgenommen worden sind, bearbeitet und bibliographisch ergänzt worden (VIII). Ihnen im Zusammenhang neu reflektiert und in eigener Konfiguration wiederzubegegnen, lohnt das Studium des Buches, zumal da einzelne Partien kleinen (biographischen) Monographien gleichen (vgl. das Kapitel über Joachim Mörlin). Allein in der Verarbeitung der Forschungsliteratur spiegeln sich weiterführende Stellungnahmen zu aktuell interdisziplinär diskutierten Sachproblemen wider (vgl. die Abschnitte zum Widerstandsrecht, 43–66, und zur Bilderfrage mit einer für die Kunstgeschichte provozierenden Schlussthese, 201). Immer wieder zeigt sich die Bemühung um den Nachweis in den Quellen, die sich nicht zuletzt im Fußnotenapparat dokumentiert – nützlich ist eine so bisher nirgendwo zu findende kommentierte Primärbibliographie zum Streit um die Bilder im Zusammenhang der reformierten Konfessionalisierung in Anhalt zwischen 1596 und 1598 (201–204). Mehrfach überschreitet die Diskussion anstehender Sachprobleme die Grenzen frühneuzeitlicher lutherischer Konfessionskultur (so z. B. in der Diskussion der Judenfrage, 112–118), lässt dann aber auch den Wunsch nach Reflexion übergreifender Fragestellungen erkennen (vgl. 117). Insofern stellt der Band mehr als eine Zusam­menfassung von K.s bisherigen Studien dar. Seine Schwerpunkte und Einzelthemen sind hilfreich durch Register erschlossen.
Das Buch bietet jedoch darüber hinaus die Möglichkeit, K.s Be­griff der »Konfessionskultur« in einer zusammenfassenden Reflexion zur Kenntnis zu nehmen. Zu diesem Bereich nehmen die Prolegomena des Buches als »historiographische Standortbe­stim­mung« Stellung (3–26). K. macht auf die Auswirkungen auf­merksam, die eine Einschränkung des Epochenbegriffs »Reformation« bis auf das Jahr 1555 hervorgebracht hat und die seiner Beo­bachtung nach bis in die Gegenwart reicht: »In der öffentlichen memorialkulturellen Praxis ist die alte reformationsgeschichtliche Meistererzählung [mit ihrer Begrenzung durch das Jahr 1555] aufs Ganze noch immer intakt« (5). Ihr widerspricht allerdings die Hochkonjunktur der Beschäftigung mit dem sog. »konfessionellen Zeitalter«, die bereits zu energischen Rückfragen nach der Bedeutung der Reformation geführt hat. Für K. bleibt, wie er ausführlich begründet (7–14), der unauflösliche Zusammenhang beider historischer Phasen undis­kutiert, der über den historiographischen Begriff der »Frühen Neuzeit« auch vielfältig Bestätigung gefunden hat. Dem »weichen« Begriff »Kultur« eignet genügend »Universalität, perspektivische Weite, Elastizität, aber auch operative Unbestimmtheit« (9), um sich mit dem »harten« Begriff »Konfessionalität« verbinden zu können, wenn dieser als Merkmal verstanden wird, »das in, mit und unter einer Vielzahl von Lebensäußerungen vorhanden war, d. h. Denken, Fühlen und Handeln einzelner Personen oder Gemeinschaften mit mehr oder minder großen Intensitätsgraden positiv oder negativ bestimmte, mitbestimmte oder jedenfalls zur Auseinandersetzung nötigte« (10). In diesem Sinne, stellt K. fest, »blieben konfessionskulturelle Prägungen in unterschiedlichen Kontexten und Milieus bekanntlich jahrhundertelang intakt und wirken bis heute nach« (13). So jedenfalls gilt es in spezifischer Weise für die deutsche Geschichte.
In diesem Kontext bringt K. Kritik an einem »etatistisch geprägte(n) Konfessionalisierungskonzept« zur Sprache, »das die Konfessionen in funktionstheoretischer Perspektive primär als integrationsstiftende und sozial disziplinierende Momente im Prozeß frühmoderner Staatenbildung analysiert hat … Als Phänomen kultureller Praxis lebte das Konfessionelle weiter, selbst als es die konfessionellen Territorial- und Stadtstaaten der Vormoderne nicht mehr gab« (13). Gleichzeitig mahnt K. angesichts dieses Konzepts und angesichts von Tendenzen, für die Zeit nach 1648 Religion einerseits und Politik und Recht andererseits zu »entkoppeln«, an, »die unverrechenbare Komplexität der konfessionellen Religion bzw. der Konfessionskulturen als entscheidendes Moment lateineuropäischer Kultur der Vormoderne und insbesondere der deutschen Geschichte zu betonen« (14). In diesem Zusammenhang übt er Kritik an einer »bis heute rezenten selbstgewiß-säkularistischen kirchen- und christentumskritischen Attitüde in der Kultur- und Gesellschaftsgeschichts­schreibung der Frühen Neuzeit oder ihren populären Derivaten« auf die religiösen Anteile des Umgangs mit humanisierenden und friedensfördernden Entwicklungen im Alten Reich (15).
Was die Spezifik der sich auf dem Boden der Wittenberger Reformation entfaltenden Konfessionskultur betrifft, richtet K. den Blick auf die Rolle der in ihr immer wieder aufbrechenden internen Auseinandersetzungen (18), auf die apokalyptische Grundstimmung im Verhältnis zur Welt und den enormen Umfang der volkssprachigen Druckproduktion (23–24).
Die konzentrierte Sprachgestalt des Buches, besonders in seinen Prolegomena, erwartet aufmerksame Leser. Es wäre spannend, mit K.s Gesamtentwurf auch die dem Luthertum des 16. und 17. Jh.s benachbarten konfessionell geprägten »religionskulturellen Konfigurationen« – so K. (VII) – zu vergleichen. Zumindest für die von der Schweiz ausgegangene Reformationsbewegung wäre hier noch fast alles zu tun. Der Volkskundler Wolfgang Brückner hat kürzlich zu einem Teilaspekt des Problems, nämlich zu »Lebensstilen calvinis­tisch-reformierten Kirchenvolks« unter Aufnahme von Beispielen »Vorüberlegungen« angestellt (Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa [Katalog], Dresden 2009, 357–363). Wenn eine solche konfessionsvergleichende Arbeit geleistet ist, kann das Paradigma »Konfessionskultur« einschließlich seiner wichtigen theologischen Aspekte auf einer neuen Ebene diskutiert werden. Das vorliegende Buch dürfte dazu einen grundlegenden Beitrag in hoher Qualität geleistet haben.