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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

985-987

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, u. Günther Wartenberg † [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit. Konfessionell bestimmte Identifikationsprozesse in den Territorien. Re­-daktion: M. Beyer u. A. Wieckowski.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 203 S. m. 1 Abb. gr.8° = Leucorea-Studien zur Ge­schichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 10. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02637-1.

Rezensent:

Christopher Spehr

Welche Bedeutung haben Konfession und Kirche für die Herausbildung regionaler Identitäten in der Frühen Neuzeit? Mit dieser Fragestellung befasste sich im März 2002 die von Günther Wartenberg und Irene Dingel geleitete 3. Frühjahrstagung zur Wittenberger Reformation, die in den Räumen der Leucorea stattfand. Trotz erheblicher Verspätung liegt jetzt der größte Teil der Vorträge in einem handlichen Tagungsband vor, der nicht nur das interdisziplinäre Spektrum des Kongresses verdeutlicht, sondern auch eindrücklich die Mehrdimensionalität der Thematik akzentuiert. Die allesamt lesenswerten Beiträge verknüpfen auf je eigene Weise die historiographische Frage nach regionalen Identitätsbildungspro­zessen mit der Konfessionalisierungsthematik. Gemeinsam ist ihnen der Fokus auf die Übereinstimmung und teilweise auch Differenz von kirchlicher – meist protestantischer – und räumlicher Struktur. Der Einfluss des Konfessionellen in Form von Kirche und kirchlichen Institutionen, von theologischer Lehre und Bekenntnis, aber auch von Frömmigkeit und Frömmigkeitsorten wird als eine entscheidende Prägegestalt des frühneuzeitlichen Regional- und Territorialbewusstseins herausgearbeitet. Dass umgekehrt auch bereits ausgeprägte regionale Identitäten auf konfessionelle Entwicklungen einwirkten, wird ebenso berücksichtigt wie die Funktion von regionalen frömmigkeitspraktischen Anverwandlungen. Der Schwerpunkt der dargebotenen Fallstudien liegt im sächsisch-thüringischen Raum, der durch ergänzende Perspektiven aus Anhalt und Pommern, Württemberg und der Kurpfalz sowie aus den städtischen Zentren in Schwaben, Basel und Danzig erweitert wird.
In ihrem aufschlussreichen Beitrag »Geistliche Amtsträger und regionale Identität im 16. Jahrhundert. Ein Widerspruch?« (11–22) betont Luise Schorn-Schütte, dass die lutherischen Pfarrer des 16./ 17. Jh.s keine »Staatsagenten« mit territorialen Zentralisierungsabsichten, sondern Stützen der die regionalen Traditionen bewahrenden ständisch-städtischen Zwischengewalten bildeten. Chris­toph Volkmar widerlegt in seiner Studie »Ansätze eines vorreformatorischen Landesbewusstseins?« anhand der konsultierten Quellen die für das Spätmittelalter in Anspruch genommene »These vom sächsischen Landesheiligen Benno von Meißen« (23–40). Die Einflüsse Karlstadts auf die Jenaer Reformation untersucht Volker Leppin in seinem Beitrag »Stadt und Region im mittleren Saaletal« (41–51). Den »Anfänge[n] einer konfessionell bestimmten Identität in Thüringen und den ernestinischen Landen« spürt Daniel Gehrt nach (53–68). Volker Gummelt wertet »Daniel Cramers ›Pomme­rische Kirchen Chronica‹« als ein »Zeugnis für ein durch die Reformation gewachsenes Regionalbewusstsein in Pommern« (69–76). In seinem gewichtigen Beitrag »Glaube und Patria« stellt Sven Tode »theoretisch-methodische Überlegungen zur räumlichen Identität Danzigs in der Frühen Neuzeit« an (77–112). Hierbei kommt er u. a. zu dem Ergebnis, dass es die lutherische Geistlichkeit war, die Glauben und Patria als Einheit verstand und die das von der Rats­oligarchie geförderte Bewusstsein der Patria Danzig ausbildete.
Irene Dingel analysiert die Einflüsse und Wirkungen auf die »Ausprägung einer regionalen konfessionellen Identität im Fürstentum Anhalt« (113–127), wobei sie für die zweite Hälfte des 16. Jh.s auf den engen Zusammenhang zwischen konfessioneller Identitätsbildung und theologischen Autoritäten hinweist. Beispielsweise wurde der 1553 verstorbene Fürst Georg III. von Anhalt neben den Autoritäten Luther und Melanchthon nach seinem Tod zur territorialen Leitfigur der konfessionellen und regionalen Identitätsfindung.
In ihrem anregenden Beitrag befasst sich Sabine Holtz mit »Württembergische[r] Landeskirche und territoriale[r] Identität« (129–139). Andreas Gößner spürt der »Kirche und Identität in den ostschwäbischen Reichsstädten in der Frühen Neuzeit« nach (141–156), Armin Kohnle widmet sich der »Landeskunde und kurpfälzische[n] Identität in der Frühen Neuzeit« (157–178) und Andreas Wendland analysiert »Basels konfessionelle Identität(en)« unter dem Titel »Stadtstaat und Bekenntnis« (179–197).
Insbesondere die territorial zersplitterte Kurpfalz, deren Ge­schichte von Diskontinuitäten bestimmt war, bildete – wie Kohnle eindrücklich darstellt – verschiedene Pfalzbegriffe aus, an die sich das jeweilige Identitätsbewusstsein angliedern konnte. Durch Konfessionswechsel der Herrscher und konfessionelle Konflikte zerfiel die kurpfälzische Identität in »konfessionelle Teilidentitäten«, die reformierter, lutherischer und römisch-katholischer Prägung waren und im Verlauf des 18. Jh.s an identitätsstiftendem Einfluss verloren. Der von Kohnle ins 18. Jh. gespannte Bogen wirft die im Kongressband offen gebliebene Frage auf, inwiefern das für das 16. und 17. Jh. plausible Konzept einer durch Konfession und Frömmigkeit geprägten regionalen Identität auf das 18. Jh. übertragbar ist. Es steht zu vermuten, dass dort ein deutlich disparateres Bild gezeichnet werden dürfte. Dass fast ausschließlich protes­tantische Territorien und Städte in den Blick genommen und die römisch-katholischen Regionen fast vollständig ausgeblendet wurden, mag ein Defizit des Tagungsbandes sein. Den wissenschaftlichen Mehrwert, der durch die facettenreichen Beiträge erzielt wird, schmälert dies allerdings nicht.