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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

983-985

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Christ-von Wedel, Christine, u. Urs B. Leu [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erasmus in Zürich. Eine verschwiegene Autorität. Mitautoren: E. Campi (Vorwort), G. Christ, D. Clavuot-Lutz, St. V. Frech, W. Gysel, B. Helbling, K. J. Rüetschi, Chr. Scheidegger.

Verlag:

Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2007. 480 S. m. Abb. gr.8°. Lw. EUR 38,00. ISBN 978-3-03823-302-2.

Rezensent:

Peter Opitz

Erasmus hat die Limmatstadt bekanntlich nie betreten. Zwinglis Einladung vom Herbst 1522 zur Übersiedlung nach Zürich hat er in einem Brief an den Zürcher Reformator freundlich abgelehnt, unter anderem mit der Bemerkung, dass er und sein Werk allen gehörten. Die damit eingeleitete endgültige Absage des Humanistenfürsten an die Reformation war umgekehrt für die Zürcher Reformatoren kein Grund, nun ihrerseits sein Werk zu ignorieren oder seine Verdienste als Bibelphilologe, Editor wichtiger Kirchenvätertexte, theologischer Impulsgeber und christlicher Erbauungs­schriftsteller zu schmälern. Im Gegenteil, sie nahmen ihn gleichsam beim Wort und haben sich auch weiterhin stets »zu Erasmus als ihrem Lehrer bekannt« (163). So hat sein Werk sie »ihr Leben lang begleitet und ihre exegetische Arbeit befruchtet« (163). Dabei nahmen sie sich allerdings stets auch »die Freiheit, das bei Erasmus zu holen, was ihnen entsprach« und »wegzulassen, was ihnen nicht passte« (162).
Der unter Federführung der renommierten Erasmusforscherin Christine Christ-von Wedel herausgegebene historisch orientierte Band – ein theologischer Beitrag fehlt leider – präsentiert unterschiedliche Aspekte dieses komplexen Prozesses der dankbaren, aber keineswegs unkritischen Erasmusrezeption in der Zürcher Reformation. Neun Autorinnen und Autoren beleuchten den Einfluss des Erasmus auf die frühen Zürcher Reformatoren Huldrych Zwingli und Leo Jud sowie den Umgang zentraler Gestalten der zweiten Reformatorengeneration mit dem Werk des Humanisten, insgesamt den Zeitraum zwischen 1516 und 1577 umspannend.
In einem »Vorspiel« skizzieren zunächst zwei informative Beiträge über das Zürcher Chorherrenstift (Werner Gysel) und über die »Klageschrift« des Chorherrn und frühen Zwingligegners Konrad Hofmann (Barbara Helbling) den historischen Hintergrund für Zwinglis Wirken in Zürich (39–76).
Der umfangmäßig größte Teil des Bandes widmet sich dann ausdrücklich der Reformation (77–273). Er wird eingeleitet von einem längeren Überblicksartikel (Christine Christ-von Wedel), der die entscheidenden Phasen des Verhältnisses des Erasmus zu den Schlüsselgestalten der Zürcher Reformation quellenkundig chronologisch darstellt, sich aber auch auf wichtige theologische Themenfelder wagt (Pneumatologie, freier Wille, Abendmahlsverständnis, Ekklesiologie). Reizvoll daran ist besonders die schwer verkennbare Perspektive: Anstelle einer schon öfter vorgenommenen Ortsbestimmung des Humanisten aus reformationshistorischer Tradition heraus wird hier der Blickwinkel radikal umgekehrt: Die Zürcher Re­formatoren werden von ihren Erasmischen Dependenzen her in den Blick genommen und zugleich auch noch am Kriterium »Erasmus« gemessen. Ob in dieser Perspektivierung allerdings das, was die Reformatoren bewegt, in die Entscheidung gestellt und zum Handeln und Leiden motiviert hat, überhaupt zu seinem Recht kommen kann, im Unterschied zu dem vor allem um seine Ruhe besorgten, öfter eine zwiespältige Haltung einnehmenden (19) frommen Skeptiker aus Rotterdam, wäre zu diskutieren. Die Gegenüberstellung von Reformatoren einerseits, die aufgrund ihres »Neuplatonismus« die »alte Kirche« wiederherstellen wollten, und des Erasmus andererseits, dem bereits die Geschichtlichkeit auch des Christentums deutlicher vor Augen stand (135–146), reicht möglicherweise noch nicht ganz an das zur Debatte stehende Problem der Wahrheit und Wahrhaftigkeit und ihrer Kriterien heran. Anregend ist eine Umkehrung eingefahrener Perspektiven allemal, etwa auch die Umkehrung des üblicherweise an Erasmus gerichteten Neuplatonismusvorwurfes.
Etwas weniger brisant, aber nicht weniger interessant und historisch lehrreich sind die weiteren Beiträge des Bandes: Urs Leu untersucht Zwinglis Lektüre der von Erasmus herausgegebenen Werke des Hieronymus anhand seiner Annotationen und Unterstreichungen, Stephan Veit Frech Leo Juds deutsche Übersetzung der »Expostulatio Jesu«, des berühmten Gedichtes des Rotterdamers, welches auf Zwinglis Weg zum Reformator eine wichtige Rolle gespielt hatte. Diana Clavuot-Lutz zeigt die Bedeutung des Exegeten Erasmus für Bullingers Galater- und Römerbriefkommentar auf, ein Beitrag von Kurt Jakob Rüetschi wirft Schlaglichter auf Rudolf Gwalthers reformatorische Bezugnahme auf den Humanisten, und Christian Scheidegger schließlich sucht nach Konvergenzen zwischen Erasmus und den Täufern, die sich in gewisser Weise beide »zwischen den konfessionellen Fronten« zu bewegen hatten.
Der letzte Teil ist einem klassischen Thema, dem Einfluss von Erasmus, gewidmet, speziell seiner Bedeutung für »Schule und Ge­lehrsamkeit« (274–365). Hier finden sich Beiträge zur Geschichte der Erasmusschriften in Zürich, die dort gedruckt wurden und eine breite Leserschaft fanden, zur Verwendung der Erasmischen Loci-Methode als Arbeits-Lektüre und Ordnungssystem durch die Re­formatoren (Urs Leu), zu Biblianders Türkenschrift (Georg Christ) und zu Inschriften zu Wandporträts von Rudolf Gwalther dem Jüngeren (1552–1577).
Ungeachtet der Heterogenität der Zugänge und der unterschiedlich engen Erasmusbezüge der einzelnen Beiträge wird doch die starke Präsenz des Erasmus in Zürich ungefähr zwischen 1520 und 1575 eindrücklich dokumentiert. Darauf und damit zugleich auf die historisch eminente Bedeutung des Humanismus für die Genese und die Gestaltwerdung des Protestantismus unwiderlegbar hingewiesen zu haben, ist das große Verdienst des Bandes. Das Verhältnis von »Reformation« und »Humanismus« ist wesentlich komplexer und zweifellos enger, als dies in der Kirchengeschichtsschreibung häufig dargestellt wurde, und Christine Christ-von Wedels entsprechender Einspruch gegen unhistorische Simplifizierungen verdient es, zur Kenntnis genommen und in der Forschung berücksichtigt zu werden (31 f.). In der Tat, auch wenn der Humanistenfürst die Konsequenzen, die viele aus seinen Schriften zogen, nicht mitzutragen bereit war, so gilt auch für die Zeit nach 1522: »Es waren nicht die Zürcher Reformatoren, die sich von Erasmus abwandten« (163).
Eine Bemerkung verdient die Ausstattung des Bandes: Seine aufwändige und sorgfältige Aufmachung (Papierqualität, ausführliche Bibliographie und Register, eine Reihe schöner historischer Drucke) hebt ihn in Zeiten der schnellen Presse wohltuend von manch anderen Produkten ab. Es wäre schade, wenn er deswegen als Geschenk- und Ausstellungsband verwendet und nicht als das ernst genommen würde, was er ist: ein Sammelband mit Forschungsbeiträgen fachkundiger Leute zu einem immer noch zentralen Problemkreis nicht nur der Zürcher, sondern der gesamten Reformationsgeschichtsforschung.