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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

979-980

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Moritz, Arne [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ars imitatur naturam. Transformationen eines Paradigmas menschlicher Kreativität im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. in Verbindung m. F.-B. Stammkötter.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2010. 350 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-402-12830-5.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Die in diesem Band veröffentlichten 19 Beiträge reflektieren die Frage, welche ideengeschichtlichen Transformationsprozesse zu den Bedingungen des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit gehören. Dabei erscheint Nikolaus von Kues als Protagonist des wissenschaftlichen und kulturellen Umbruchs dieses Übergangs. Die aristotelische Formel ars imitatur naturam enthält das Poten­-tial, menschliche Kreativität im Sinne einer heteronomen Abhängigkeit von Natur bzw. ihrem Schöpfer zu verstehen. Das geschieht in stetem Bezug zur Philosophie und Theologie der Zeit.
Im ersten Abschnitt (Aristotelische Tradition) rekonstruiert Charles Lohr eine Veränderung des Begriffs der artes im späten Mittelalter, allmählich wurden Konzeptionen praktischen Wissens entwickelt, die einem auf Kontingentes be­zogenen Wissenserwerb aufgeschlossener gegenübertraten. Alexander Aichele untersucht, wie der Satz, dass die Kunst die Natur nachahmt, sich in das aris­totelische Gesamtwerk einordnet. Andrej Krause beschäftigt das Verhältnis von Kunst und Natur bei Thomas von Aquin. Thomas unterscheidet die Er­schaffung aus dem Nichts, das Hervorbringen vonseiten der Natur und das Hervorbringen als Herstellen. Die Kunst sei die Nachahmerin der Natur, weil menschlicher und göttlicher Intellekt ähnlich seien. Ja, die Kunst vervollkommnet die Natur und wendet die Vernunft auf etwas Herstellbares an. Nach Matthias Kaufmann interpretiert Ockham den Nachahmungssatz so, dass zwar die Kunst der Natur keine neuen Gegenstände hinzufüge, aber er sieht im Tun des Künstlers ein semiotisches Verweisen.
Im zweiten Abschnitt (Kunst und Literatur) befasst sich Sylvie Tritz mit dem Grabmal des Nikolaus von Kues in der Kirche S. Pietro in Vincoli in Rom, das der Kardinal selbst in Auftrag gegeben hat. Er stellt sich als Würdenträger dem Apostel Petrus gegenüber und betont in seiner Frömmigkeit eine »An­ähnlichung an das Urbild« (103). Elena Filippi stellt die imitatio naturae der imitatio Christi bei Dürer gegenüber. Sie ist überzeugt, sein berühmtes Selbstbildnis von 1500 lasse den Einfluss cusanischen Denkens erkennen. Dürer porträtierte sich als imago Christi; imitatio naturae und imitatio Christi werden bei ihm identisch. Das erinnert an die Aussage vom Menschen als zweitem Gott bei Nikolaus. Gianluca Cuozzo beschäftigt sich mit dem Fresko vom dreigesichtigen Gott in der Pfarrkirche von Vigo di Fassa im Bistum Brixen: »Die Augen des Göttlichen entfalten sich sozusagen perspektivisch in seinem einzigen trinitarischen Blick, der sich aus vier Augen und drei möglichen Blickrichtungen zusammensetzt.« Die Augen des Vaters gehen un­merklich in die der beiden anderen trinitarischen Personen über. Nikolaus dürfte der Auftraggeber dieses Freskos gewesen sein, deutlich sind die Berührungspunkte mit seiner Schrift De visione Dei. Gott ist weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist, er ist nur der Unendliche. Als solcher überlässt er den Menschen nicht sich selbst, er ist umfasst von der »visio des fürsorglichen Prinzips« (126). Markus Riedenauer untersucht die zentralperspektivische Darstellung in der Malerei des Quattrocento. Nikolaus biete in seinen Schriften Elemente einer Philosophie der Perspektive (vgl. De beryllo): »Weil wirkliche Wesenserkenntnis allein Gott möglich ist, ist menschliches Erkennen immer auf einen bestimmten Anblick eingeschränkt. ... Der schöpferisch erkennende Mensch bildet sich einen Durchblick, der zwar ... eingeschränkt ist, aber dennoch gültig und wahr vom Ziel her« (133). Florian Klingele bezieht sich in seinem Beitrag auf den Durchbruch zu perspektivischen Darstellungsformen in der Malerei der Renaissance. Bei ihnen geht es nicht nur um Nachahmung des natürlichen Sehens, sondern darum, inwieweit der Fluchtpunkt als Erscheinung Gottes fungiert. Nachahmung steht exemplarisch für die gottähnliche Schöpferkraft des Menschen. Auch er betont, dass nach Nikolaus »der Mensch ein Abbild der göttlichen Schöpferkraft« besitzt (166). Christian Senkel untersucht, inwieweit der Nachahmungssatz für Dantes Göttliche Komödie zutrifft. Er sieht bei Dante »ein Beispiel für die spannungsreiche Integration der Wissenschaft von der äußeren Welt und eines Glaubenswissens der inneren Dinge« (173), auch wenn sein Verhältnis zum Nachahmungssatz nicht homogen ist.
Im dritten Abschnitt werden die Themen Anthropologie, Religion und Politik behandelt. Isabelle Mandrella schreibt über die An­gleichung des Menschen an Christus als ars Dei: „Allein der Mensch als intellektuelle Natur ist … ›capax artis‹«; seine Kunst besteht mehr im Zustandebringen als im Nachahmen, seine Kunstfähigkeit teilt er gewissermaßen mit Gott (187 f.). In der Selbsterkenntnis kehrt er zu seinem Urbild zurück. Fredéric Vengeon arbeitet anhand dreier Beispiele (Meister Eckhart, Nikolaus und Descartes) unterschiedliche Konzeptionen von der Abbildhaftigkeit des Menschen gegenüber einem unendlich gedachten Gott heraus. Er sucht dabei herauszufinden, inwieweit da Spielraum für menschliche Kreativität bleibt, und stellt fest: Auch innerhalb einer theonom bestimmten Tradition verbleiben ihr verschiedene Möglichkeiten. Philipp David fragt, inwieweit der Mensch von Natur aus religiös sei. Nikolaus spricht wiederholt von einer natürlichen Sehnsucht des Menschen nach ewigem Leben und Wahrheit. Arne Moritz vergleicht, wie Aris­-toteles, Marsilius von Padua und Nikolaus über die »artifizielle Kompensation der Defizite in der Naturausstattung des Menschen« denken. Marsilius und Nikolaus messen der menschlichen Kunstfertigkeit für die Begründung des politischen Gemeinwesens eine höhere Bedeutung als Aristoteles bei.
Im letzten Abschnitt werden Wissenschaft und Erkenntnislehre behandelt. Maria Cecilia Rusconi rekonstruiert die platonisch geprägte Tradition des Verständnisses von Natur und Kunst im Vergleich von Thierry von Chartres und Nikolaus. Beide nehmen ein mimetisches Abbildverhältnis zwischen dem erkennenden Geist des Menschen und dem Geist des Schöpfers an. Sie vertreten eine Auffassung von mimesis, »in der die Stelle des Urbildes nicht von dem hervorgebrachten Objekt, sondern vielmehr vom schöpferischen Tun des Menschen eingenommen wird, das sich in der Kunst als Nachahmer des schöpferischen Gottes zeigt« (264). Harald Schwaetzer legt dar, dass der Nachahmungssatz, den Nikolaus mehrfach zitiert, und sein Konzept von der visio intellectualis sich gegenseitig beleuchten. So wie Gott in der Schöpfung der Natur kreativ ist, so der Mensch in der Schöpfung der Kunst; als deus secundus ahmt er seinen Schöpfer nach. Die menschliche Kunst als vis creativa ist mit der göttlichen Natur verbunden. Tom Müller befasst sich mit der Kartographie bei Alberti, Toscanelli und Nikolaus. Für Alberti ist das Erstellen einer Karte ein technisches Problem, bei Nikolaus dagegen ein erkenntnistheoretisches. Kirstin Zeyer fragt nach der Stellung des Nikolaus innerhalb der Geschichte des Verständnisses der schöpferischen Autonomie des Menschen. Für ihn ist die Tätigkeit des Künstlers eine eigenständige Vollendung der Natur. Für Detlef Thiel entwickelt Nikolaus in De coniecturis eine Philosophie der umfassenden, schöpferischen Geistnatur.
Mit diesem Aufsatzband liegt ein bunter Strauß von Aussagen zum Thema vor, die sich oft gegenseitig ergänzen, manchmal auch in Spannung zueinander stehen. Sie zeigen, wie stark die künstlerische Innovation beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit Theologie und Philosophie verbunden ist.