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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

977-979

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kremer, Klaus, u. Klaus Reinhardt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Sermones des Nikolaus von Kues II. Inhaltliche Schwerpunkte. Akten des Symposiums in Trier vom 20. bis 22. Oktober 2005.

Verlag:

Trier: Cusanus-Institut (Paulinus) 2006. XXIX, 333 S. gr.8° = Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft, 31. Kart. EUR 47,50. ISBN 978-3-7902-1592-2.

Rezensent:

William J. Hoye

Die 293 Predigten des Nikolaus von Kues, die etwa ein Drittel seines publizierten Werkes ausmachen, werden in diesem Band als Ge­samtwerk unter mehreren inhaltlichen Themen untersucht. In­wiefern NvK sich mit den niedergeschriebenen Gedanken identifiziert hat, lässt sich schwer feststellen. Es handelt sich offensichtlich lediglich um Notizen zur Vorbereitung der Predigt, die manchmal aus Quellen abgeschrieben sind. Ausdrücklich hat er sie selbst jedenfalls hoch bewertet. Naturgemäß werden die cusanische Theologie und Spiritualität betont, so dass sich ein anderes als das bisher herrschende Bild vom Denker NvK herausstellt.
Mit dem für Cusanus charakteristischen Zitat »Alles Neue nämlich gefällt« führt Klaus Kremer (Trier) in die Tagung ein. Wie er zeigt, entwickelt NvK anhand der Begriffe novum und novitas eine eigene Auffassung über Neuheit, »die über und vor der Zeit steht« und von der Ewigkeit gezeugt wird. Freude entsteht u. a. aus Wiederholung, die etwas semper novum bewirkt. Hervorzuheben ist die Idee von der novitas novitatis aeternae.
Karl-Hermann Kandler (Freiberg) behandelt Bilder und Gleichnisse in den Sermones. Er hebt hervor, dass NvK Gleichnisse, wie den Löffelschnitzer, die ›Ikone Gottes‹, das Globusspiel, den Bäcker, das Magnet, einen Diamanten, an die Stelle der scholastischen Begrifflichkeit setzt, um zur Wahrheit zu führen. Durch »symbolische Erforschung« (investigatio symbolica) will der Prediger zu einer visio intellectualis hinleiten.
Peter Casarella (Washington DC) beleuchtet die Selbstgestaltung des Menschen nach NvK mithilfe eines Ansatzes von Hans-Georg Gadamer. Casarella vertritt die Ansicht, dass Gadamers Fragestellung eine neue Dimension des cusanischen Denkens vermittelt. »Da der Mensch als Mikrokosmos nach NvK sich selbst verstehen und gestalten muss, um die Welt zu interpretieren«, resümiert er (50), »haben wir aus dieser Analyse die cusanische Offenheit zur Welt wieder entdeckt und neu gestaltet.« Diese Of­fenheit falle mit einer gewissen Theopoietik zusammen.
Mit seiner zuverlässigen Akribie und einer erschöpfenden Auslotung des cusanischen Denkens stellt Klaus Kremer die Besonderheiten der cusanischen Gotteserkenntnis dar. Kremer bestätigt die These von Rudolf Haubst, NvK habe gelehrt, dass Philosophen bis zur Trinitätslehre gelangt seien und dass Erkenntnis des trinitarischen Gottes aus rein natürlichen Vernunftgründen möglich sei, da sich Spuren der Dreieinigkeit schon in der Schöpfung finden. Zwar können sie erst vom christlichen Glauben her gedeutet werden, aber dennoch gilt diese These, die im Widerspruch etwa zu Thomas von Aquin steht. Die empirische Welt ist für Cusanus gleichsam ein mit dem Finger Gottes geschriebenes Buch.
Hermann Schnarr (Trier) befasst sich mit der cusanischen Hinführung des Menschen zu Jesus Christus. Entscheidend dabei ist, dass, wer den ganzen und wahren Menschen sucht, sich schon auf dem Weg zu Jesus Christus befindet. Die menschliche Natur impliziert sogar die Idee der Inkarnation, wobei Christus den vollendeten Menschen (maximus homo) repräsentiert. Umgekehrt wird die Christologie zur Anthropologie. Das Ziel der menschlichen Natur besteht darin, filius dei und somit Bruder Christi zu werden.
Die Ekklesiologie des NvK ist naturgemäß in den Sermones besonders entfaltet, wie Martin Thurner darstellt. Dabei berück­sichtigt er die Frage, inwiefern sie für heute hilfreich sein kann. Hier wird die zunehmende Bedeutung der »Intellektwirklichkeit« zur Geltung gebracht. »Die Verbindung seines Kirchenverständnisses mit der Selbstreflexion des Intellekts« habe zur Folge, dass Cusanus »in seiner Geistphilosophie ein prozesshaftes Moment in den Vordergrund stellt« (146). Wichtige weitere Themen sind der Glaubensprimat des Petrus und der mystische Leib Christi, was für Cusanus zu einem geeigneteren Modell der Kirche als Viel-Einheit wird. Damit treten selbst in den sog. Papstpredigten »die Fragen nach der äußerlich-hierarchischen Macht- und Autoritätsstruktur der Kirche eher in den Hintergrund« (162). Thurner gelangt zur Schlussfolgerung: »Allen ekklesiologischen Positionen in den Sermones scheint die Auffassung gemeinsam zu sein, dass die Kirchlichkeit ein allen Menschen über die Grenzen von Konfessionen und Religionen gemeinsames, also anthropologisches Grundfaktum ist, das in der inneren Begründungsstruktur der menschlichen Intellektnatur als solcher seinen Grund hat und sich (heils- und offenbarungs)geschichtlich in zunehmender Intensität zeigt« (159–160).
Die schwierige Aufgabe, die Gehorsamslehre darzustellen, wird von Norbert Herold (Münster) in ihrer Vielseitigkeit meisterhaft durchgeführt. Er ist sich stets der heutigen Ansichten und Widerstände zur Idee des Gehorsams bewusst und betrachtet NvK mit entsprechenden Augen. So stellt er beispielsweise fest: »Es ist für den heutigen Leser befremdlich, wenn statt der Freiheit des Gehorsams jetzt plötzlich der irrationale Gehorsam als die vollen­dete und vollkommenste Form des Gehorsams gepriesen wird, verbunden mit dem Argument, dass es ja gar kein Gehorsam sein würde, wenn es dem Urteil des angesprochenen Laien überlassen wäre, ob er dem Spruch des geistlichen Hirten gehorchen müsse« (179). In der Tat wundert man sich über die Betonung der unbedingten Gehorsamspflicht der Laien gegenüber der kirchlichen Obrigkeit, be­sonders wenn man die Lehre des Thomas von Aquin ( De veritate, q. 17, a. 5) über den Primat des Gewissens nicht nur in solchen Fällen kennt. Herolds aufrichtige, kritische Darstellung ist wohltuend und hinsichtlich mehrerer wichtiger Fragen sehr anregend, und zwar weit über die Belange der Cusanusforschung hinaus.
Auf die differenzierte Lehre vom menschlichen Geist (intellectus/Vernunft) geht Mariano Álvarez-Gómez (Salamanca) ein. Mit dem Versuch, die Wahrheit der Offenbarung verständlich zu machen, stellt sich die Frage nach der Vernunft, die der Höhepunkt des Menschen ist. »Der Glaube findet sich nur in der Vernunft«, schreibt NvK, so dass er zur Selbstfindung führt. Jeder Erkenntnis geht der Glaube voraus. Für NvK gilt sogar: »Die Vernunft wird durch das Einsehen Gott gleichförmiger.« Und weiterhin, dass man im Evangelium nur dann fest steht, wenn man die Wahrheit festhält, die Gott selbst ist. »Die Sünde besteht darin«, lehrt Cusanus, »dem Licht der Vernunft zuwiderzuhandeln.«
Albert Dahm (Trier) erläutert die Beziehung von Vernunft und Glauben und befasst sich dabei mit Büchern von Kurt Flasch und Ulli Roth. Es soll überprüft werden, wie bei Cusanus die Vernunft auf den Glauben hingeordnet ist, sowie, inwiefern natürliche und übernatürliche Offenbarung sich zueinander verhalten. Größe und Schwäche des menschlichen intellectus werden erörtert.
Am Anfang des Bandes stehen Nachrufe für drei bedeutsame Cusanusforscher. Hermann Schnarr schreibt über Gerda Freiin von Bredow, Jean-Marie Nicole über Maurice de Gandillac und Hans Gerhard Senger über Raymond Klibanski. Dem Band angeschlossen sind Besprechungen zu Büchern von Inigo Bocken, Klaus Kremer und Arne Moritz sowie zur Publikation der vorherigen Cusanus-Tagung über die Sermones, die ebenfalls dem Predigtwerk gewidmet war.