Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2010

Spalte:

975-977

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Hrsg. v. Max-Planck-Institut für Geschichte. Red. N. Kruppa. Neue Folge 49: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Halberstadt, l: Das Stift St. Nikolaus in Stendal. Im Auftrage d. Max-Planck-lnstituts für Geschichte bearb. v. Ch. Popp.

Titel/Untertitel:

Germania Sacra. Historisch-statistische Beschreibung der Kirche des Alten Reiches.

Verlag:

Berlin-NewYork: de Gruyter 2007. X, 358 S. u. 5 Tfn. im Anhang. gr. 8°. Lw. EUR 104,95. ISBN 978-3-11-019535-4.

Rezensent:

Ernst Badstübner

Im Vorwort der anzuzeigenden Publikation gibt der Bearbeiter Christian Popp an, es sei ihm ein Anliegen gewesen, »den von der kirchengeschichtlichen Forschung lange vernachlässigten mittel- und nordostdeutschen Raum wieder mehr in das Blickfeld zu rü­-cken«. Ob der kritische Unterton dieser Bemerkung nun zutreffend ist oder nicht – immerhin war P. führend am Zustandekommen des bereits in zweiter Auflage erscheinenden Brandenburgischen Klos­terbuches beteiligt –, ihm ist es sehr gut gelungen, die Geschichte des Nikolaistifts in Stendal, dessen Kirche landläufig als Dom ge­führt wird, mit allen ihren Facetten trotz der Gliederungsbandagen der Germania Sacra interessant und gut lesbar darzustellen.
Eingangs werden nach »Quellen« und »Literatur« die »Denkmäler«, die Kirche und ihre Ausstattung, davon herausragend die spätmittelalterlichen Glasmalereien, kurz behandelt, nicht im kunstgeschichtlichen Sinne, aber mit den Hinweisen auf die seitens der Kunstgeschichte gern übersehenen Schriftquellen, was zu baugeschichtlichen Präzisierungen führen konnte. Von den erhaltenen Vasa sacra ist neben den erst nach der Reformation in den Dom gekommenen der sog. »Markgrafenkelch« vermerkt mit den bezeichneten Stifterbildern des Markgrafen Hermann (1275–1308) und seiner Frau, nach anderer Lesart (Lisa Schürenberg) des Grafen Heinrich von Gardelegen und seiner Frau (1298–1309), eine Parallele zum Kelch in der Berliner Marienkirche aus dem Kloster Chorin. Im Abschnitt 2 »Archiv und Bibliothek« finden sich die Odyssee des weitgehend erhaltenen Urkundenbestandes bis in die Gegenwart und die Bemerkung, dass eine Stiftsbibliothek nicht nachgewiesen, privater Bücherbesitz der Kanoniker aber erschlossen werden kann.
Nach diesen Präliminarien beginnt der Abschnitt 3 »Historische Übersicht« mit der Gründungsgeschichte, der Lagebeschreibung (auf markgräflichem Grund am Südwestrand der Stadt) und der Patroziniumsbestimmung (St. Nikolaus, St. Bartholomäus und St. Stephan). Die päpstliche Bestätigung mit gleichzeitiger Exemption aus der Jurisdiktion des Halberstädter Bistums vom 29. Mai 1188 gilt allgemein als Gründungsdatum, was aber von P. doch wohl zu Recht mit »Terminus ante quem« relativiert wird. P. betont den weltlichen Charakter des Stifts und weist die Annahme zurück, es habe sich, zumindest anfangs, um ein Stift der Augustiner-Chorherren gehandelt. Entschieden wendet er sich auch gegen ältere Auffassungen, die eine ursprünglich beabsichtigte Gründung eines Bistums postulieren, dessen Sitz zuerst in Tangermünde, dann aber in Stendal geplant gewesen sei. Dagegen zieht sich durch die ganze Darstellung eine engere Bindung an Magdeburg, was sich nicht zuletzt auch an der Baugestalt des großartigen spätgotischen Neubaus der Stiftskirche (begonnen vor 1424, vollendet um 1470/80) als einer weiträumigen Halle mit Querschiff und gestreck­tem einschiffigen Chor ablesen lässt (gleiche Wandstrukturen und Gewölbefigurationen in den Seitenschiffen wie im Magdeburger Dom). P. sieht aber vor allem die Bedeutung und den Erfolg der Stiftsgründung in Zusammenhang mit dem »Beginn des umfassenden Urbanisierungsprozesses, der im 13. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichen sollte«. Durch »das wirtschaftliche Potential des Stiftskirchentums« entwickelte sich »das Stift selbst zu einem marktfördernden und siedlungsaktivierenden Faktor«. Trotz dieser Einbindung in die städtische Entwicklung bleibt es bei der Förderung durch die Familie der askanischen Markgrafen, ohne dass es deshalb zu einer Rechtsabhängigkeit vom Landesherrn gekommen wäre. Im folgenden Abschnitt 4 »Verfassung und Verwaltung« wird darauf näher eingegangen. Nach der Reformation wurde das Stift 1551 aufgelöst, der Besitz ging an die Universität in Frankfurt an der Oder.
Im Abschnitt 4 ist dann auch ausführlicher von der regionalen Herkunft und dem sozialen Stand der Stiftsangehörigen die Rede (altmärkischer Adel, z. B. von Alvensleben, oder magdeburgische Ministerialen, z. B. von Redekin), ferner von den Amtsträgern, im Einzelnen vom Probst, Dekan, Scholaster, Kustos, Kellerer und Senior; ebenso werden die Vikarien und die Altarpfründen aufge­lis­tet. Die zugehörigen Personallisten erscheinen erst am Schluss als Abschnitt 7. Zum Abschnitt 4 gehören noch die interessanten, um nicht zu sagen spannenden Paragraphen 15 bis 19 mit der Beschreibung der Beziehungen des Stifts zum Papst, zum Bischof von Halberstadt, zum Landesherrn (mit dem Hinweis auf die seit 1282 bezeugte Aufbewahrung markgräflicher Dokumente in der Stiftskirche), zur Stadt (einschließlich des bildungsgeschichtlich bemerkenswerten Schulstreits) und zu anderen Klöstern und Stiften. In Abschnitt 5 geht es um »Religiöses und geistiges Leben« und Ab­schnitt 6 beschäftigt sich ausführlich mit dem Stiftsbesitz und seiner Geschichte. Schon in der Papstbulle von 1188 sind Besitzrechte aufgeführt, die »als Gründungsausstattung angesehen werden«. Auch der übrige Urkundenbestand »wird von den besitzgeschichtlich relevanten Urkunden dominiert«. Zahlreiche inkorporierte Pfarreien sorgten für Reichtum und Wohlstand. Das nötige Privileg ist allerdings erst 1270 von markgräflicher Seite, den askanischen Markgrafen Johann II., Otto IV. und Konrad erteilt worden. Darin wird auch die Tangermünder Kirche St. Stephan dem Stendaler Stift übertragen. Sie wurde durch Karl IV. 1376/77 bei gleichzeitiger Gründung eines Kollegiatstifts in Tangermünde wieder entzogen, was harte Einbußen für Stendal mit sich brachte. Eine Entschädigung erfolgte 1381 durch Markgraf Sigismund mit der Stadtpfarre von Gardelegen.
Abschnitt 7, wie schon erwähnt, bildet mit den Personallisten den Abschluss dieser Arbeit, die einen wichtigen Zuwachs zur Landesgeschichte des deutschen Nordostens, hier Brandenburgs, beiträgt. Man nimmt den Band gerne zur Hand, auch wenn die Gliederungsvorschriften der Germania Sacra schließlich die fortlaufende Lektüre etwas erschweren. Die Arbeit ist aus einer Dissertation unter der deutlich spürbaren Mentorschaft von Winfried Schich hervorgegangen. Für zukünftig zu vergebende Graduierungsarbeiten mit landesgeschichtlichen Themenstellungen kann sie Anregung und Beispiel sein.