Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

130 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schürger, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Theologie auf dem Weg der Befreiung. Geschichte und Methode des Zentrums für Bibelstudien/CEBI in Brasilien

Verlag:

Erlangen: Verlag der Ev.-Luth. Mission 1995. 280 S. 8° = Erlanger Monographien aus Mission und Ökumene, 24. Kart. DM 45,­. ISBN 3-87214-324-7.

Rezensent:

Reinhard Frieling

Das Centro de Estudios Bíblicos (CEBI) in Brasilien entstand Mitte der siebziger Jahre und hat sich inzwischen als eine ökumenische Einrichtung mit zahlreichen regionalen Untergliederungen etabliert, die durch "Bibelkurse" vor allem mit und in den Basisgemeinden wirken. Wolfgang Schürger hat als evangelischer Theologe aus Deutschland diese Arbeit einige Jahre miterlebt und das umfangreiche Material studiert. Mit der vorliegenden Dissertation zeigt er verdienstvoll auf, daß zwar eine einseitig marxistisch inspirierte Theologie der Befreiung in La-teinamerika ihre Bedeutung verloren hat, daß aber entscheidende Anliegen einer "Theologie auf dem Weg der Befreiung" lebendig sind und auch dazu herausfordern, zu fragen, wie Wege der Befreiung im Kontext der europäischen Kirchen aussehen könnten.

Der erste Teil der Arbeit beschreibt die Geschichte und die hermeneutischen Grundlagen des CEBI, der zweite Teil reflektiert anhand einer Reihe von Einzelstudien, wie "der Weg Gottes mit den Menschen" Perspektiven der Befreiung gestern und heute eröffnet. Im dritten Teil faßt Sch. die Ergebnisse zusammen, wobei vor allem die hermeneutische Methode kritisch dargestellt und nach neuen Impulsen auch für die europäische Theologie gefragt wird.

Sch. zeigt zu Recht, daß die Theologie des CEBI nicht einfach unmittelbarer Exportartikel nach Europa werden kann. Vielmehr setzt eine befreiungstheologische Bibellektüre voraus, daß zunächst die Analyse der eigenen Situation des Bibellesers integraler Bestandteil der Theologie ist. Die Bibellektüre setzt beim CEBI die traditionelle exegetische Arbeit voraus, fügt sodann jedoch als methodische Ergänzung eine "leitura dos quatro lados" hinzu, eine Auslegung von den vier Seiten, nämlich von der sozialen, der ökonomischen, der politischen und der ideologischen (religiösen) Seite her. Sch. schildert dies als CEBI-Analyse der brasilianischen Wirklichkeit und weist darauf hin, daß für den europäischen Kontext wohl noch weitere Faktoren oder "Seiten" hinzukommen müßten. Es wäre freilich zu fragen, (1) ob nicht auch im lateinamerikanischen Kontext noch mehrere Dimensionen der Gesellschaftsanalyse erfaßt werden müßten, und (2) wer denn für die Richtigkeit der jeweiligen Gesellschaftsanalyse und der daraus folgenden politischen, auch parteipolitischen, Optionen bürgt. Sch. schildert, daß CEBI durchaus Elemente der "materialistischen Bibellektüre" aufgreift, daß es aber nicht wie die meisten materialistischen Bibelleser auf kirchenfremde Menschen ziele und nicht allein den Befreiungskampf betone, sondern Befreiung durch und mit der Kirche erreichen wolle. Hier liegt wohl der Grund, daß CEBI ­ auch als ökumenische Einrichtung ­ von mancherlei Kampagnen brasilianischer Bischöfe gegen die Befreiungstheologie verschont blieb.

Die Bibelkurse von CEBI vermitteln den Menschen in den Basisgemeinden vor allem den "menschenfreundlichen Gott", den gegenwärtigen Gott, der mitleidet, der neue Kraft und Hoffnung gibt und neues Leben schafft. Sch. zeigt, daß somit die Frage nach dem Gottesbild durch diese Befreiungstheologie neu gestellt ist: Während für manchen europäischen Theologen eine Theologie, für die die Lebenswelt einen konstitutiven Faktor darstellt, ihren eigenen Gegenstand, Gott, verloren hat, betont diese brasilianische Theologie auf dem Weg der Befreiung die Erfahrung Gottes im Kontext heutiger Lebensbezüge, und sie nimmt diese Kontextualität mit hinein in die befreiungstheologische Hermeneutik der Bibellektüre.

Sch. zeigt in kritischer Sympathie auf, wie beim CEBI so "Nähe und Distanz" den Umgang mit einzelnen biblischen Texten bestimmt und wie das Verhältnis von hermeneutischem Schlüssel ("Kanon im Kanon?") und Schriftganzem bestimmt wird.

Konfessionsspezifische Fragen spielen bei der Arbeit von CEBI keine Rolle mehr. Auch der Unmut lateinamerikanischer Befreiungstheologen über die europäische Theologie, welche die Befreiungstheologie nicht als wissenschaftliche Theologie ernst nimmt, sondern allenfalls als kirchliche Praxis mit praktisch-theologischer Reflexion wertet, klingt kaum noch an. Radikaler klingt das Nachwort von Carlos A. Dreher (evangelisch-lutherisch, Sao Leopoldo): "Die Liebe Gottes zu den Schwachen und die Auflehnung gegen die Brutalität des Kreuzes sind keine Themen Lateinamerikas oder der ’dritten Welt’ mehr. Es sind Themen der ganzen Menschheit!" (249) Wie sich freilich die Auflehnung gegen die Brutalität des Kreuzes im Leiden der Armen zum Kreuz Jesu Christi verhält, muß weiter das zentrale Thema der Befreiungstheologie bleiben.