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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

973-975

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilckens, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theologie des Neuen Testaments. Bd. II: Die Theologie des Neuen Testaments als Grundlage kirchlicher Lehre. Teilbd. 2: Der Aufbau.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2009. XVIII, 364 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2259-3.

Rezensent:

Ferdinand Hahn

U. Wilckens hat mit diesem sechsten Teilband seine umfangreiche Darstellung der neutestamentlichen Theologie abgeschlossen. Ich verweise auf meine Besprechungen der vorangegangenen Bände I/1 und 2 in ThLZ 129 (2004), 1305–1309; I/3 und 4 in ThLZ 132 (2007), 46–48, und II/1 in ThLZ 133 (2008), 1090–1093. Mit dem jetzt vorliegenden Teilband wird die systematische Darstellung des zweiten Bandes zum Abschluss gebracht. Nachdem in Bd. II/1 im Blick auf »Das Fundament« einer neutestamentlichen Theologie die Bedeutung des neutestamentlichen Kanons, die Theologie des Alten Testaments sowie die Christologie und Pneumatologie behandelt wurden, werden nun in II/2 unter dem Leitgedanken »Der Aufbau« zentrale Einzelthemen erörtert. Ein ursprünglich geplanter Bd. III über Geschichte und Probleme der historisch-kritischen Methode wird aus Altersgründen nicht mehr erscheinen.
In Bd. II/1 hat W. im Zusammenhang mit der Inspiration der Heiligen Schrift und der Frage nach deren spezifischem Charakter die Bedeutung und Aufgabe einer »geistlichen Schriftlesung« behandelt (vgl. dort 60 ff.). Dementsprechend hat er in den folgenden Kapiteln meditative Betrachtungen an das Ende einiger Hauptabschnitte gestellt. Das führt er nun in Bd. II/2 konsequent weiter und schließt das Werk mit einem Kapitel über den trinitarischen Charakter des neutestamentlichen Zeugnisses ab.
Kennzeichnend für die Darstellung bei W. ist, dass in Bd. II nicht nur betrachtend festgestellt wird, was die einzelnen Texte aussagen; vielmehr soll der proklamatorische Charakter der Aussagen aufgenommen und wiedergegeben werden. Es geht deshalb nicht nur um den speziellen Inhalt der Texte, es soll auch deren spezifische Intention berücksichtigt werden. Insofern handelt es sich primär nicht um den Modus des Referates, sondern die Darstellung zielt auf den Modus des Nachvollzugs, was dem Werk seine Be­sonderheit verleiht. Hier wird vor allem deutlich, wie die von W. in I/1 geforderte methodische Neuausrichtung zu verstehen ist: Es geht grundsätzlich um eine Verbindung der exegetischen Analyse mit der Frage nach dem Bekenntnischarakter der einzelnen Aussagen. Erst damit sieht W. die Aufgabe einer theologischen Schriftauslegung erfüllt.
W. will auf diese Weise »Denkwege« finden für eine der Heiligen Schrift angemessene »Rede von Gott selbst und seinem geschichtlichen Handeln« (VII), also eine der Heiligen Schrift adäquate kerygmatische Redeweise. Dass dies eine zentrale theologische Aufgabe ist, bleibt unbestritten. Die Frage ist nur, ob es ein unmittelbarer Be­standteil der Exegese ist oder doch eher eine Aufgabe, die im Zusam­menhang mit dem individuellen Bekenntnis und der aktuellen Verkündigung steht. Die deskriptive und die konfessorische Funktion haben ihre unterschiedliche Bestimmung, auch wenn beide wechselseitig in enger Beziehung miteinander stehen.
Im Einzelnen behandelt W. in Bd. II/2 zunächst die Evangeliumsverkündigung, die Taufe und den eucharistischen Mahlgottesdienst. Von da aus erörtert er das »Wesen der Kirche« und deren »heilsgeschichtlichen Horizont«. Dann folgt ein Kapitel über »Die Bedeutung des Gesetzes für die Christen«, danach über »Das Bleiben der Kirche in der Wahrheit des Evangeliums« und »Das Bleiben der Kirche im Gebet«. Dem schließen sich zwei Kapitel über »Schöpfung und Welt« und »Die endzeitliche Heilsvollendung« an. Das Werk findet seinen Abschluss mit einem Kapitel über »Der drei-eine Gott«.
Das Schwergewicht liegt für W., wie vor allem Bd. II erkennen lässt, nicht auf der zum Glauben aufrufenden Intention des Evangeliums, sondern auf der im Glauben angenommenen Heilsbotschaft als Grundlage für eine christliche Existenz. Das wird besonders deutlich bei der Behandlung des Gesetzes, wenn dort ausdrücklich von dessen Bedeutung »für die Christen« gesprochen wird (164), während für Paulus, aber auch für Matthäus und Lukas, die Frage nach der Relevanz des Gesetzes im Vorausblick auf das Heil zumindest eine ebenso große Rolle spielt.
Dementsprechend setzt W. die Situation des bereits am Heil partizipierenden Glaubenden weitgehend voraus. Das Problem der Zweifelnden und der Schwachen im Glauben tritt demgegenüber zurück. Es soll nicht bestritten werden, dass dies eine durchaus wichtige Sicht ist. Zu fragen bleibt nur, ob sie nicht zu einseitig hervorgehoben wird, und das gerade in einer Zeit, in der der Glaube sehr stark angefochten ist. Zweifellos geht es um die grundlegende Wahrheit, »von der und aus der aller christliche Glaube lebt« (V), die aber immer wieder neu bezeugt und erfasst sein will.
Sehr aufschlussreich ist bei W. die Besprechung des Gebets. Es wird nicht primär in seiner formalen und inhaltlichen Eigenart behandelt, sondern in seiner Funktion für das Glaubensleben. Daher gewinnt auch der Vollzug des Gebets eine wichtige Rolle, weswegen ja auch jeder einzelne Paragraph in ein abschließendes Gebet einmündet.
Auffällig ist, dass zwei Themen zwar nicht fehlen, aber doch in den Hintergrund treten. Das ist einmal die missionarische Verkündigung mit ihrem Ruf zum Glauben und ist andererseits die urchristliche Ethik. Hängt das eine mit der stark hervorgehobenen Innenperspektive der Glaubensgemeinschaft und des Glaubenslebens zusammen, so das andere mit einer offensichtlich intendierten Verselbständigung der ethischen Probleme. Ein anderes Thema ist dagegen mit guten Gründen ausführlich behandelt: das Verhältnis der Kirche zu Israel (124–163, bes. 153 ff.). Während einzelne Texte hier Aporien erkennen lassen, hat vor allem Paulus eine wegweisende theologische Lösung angebahnt, die W. mit Matthäus und Johannes in Verbindung zu bringen sucht. Insgesamt kommt er zu einem differenzierten Ergebnis, wonach die Kirche auch nach dem Holocaust nicht auf die Evangeliumsverkündigung für Juden verzichten kann. Wieweit das heute theologisch zu verantworten ist, muss zumindest gefragt werden. Sollte nicht doch die ur­sprüngliche Verbindung mit Israel im Vordergrund stehen?
W. hat mit seiner sechsbändigen Theologie des Neuen Testaments ein höchst eindrucksvolles Werk vorgelegt. Dass sich hier auch Rückfragen ergeben, ist bei einem solchen Entwurf nicht überraschend. Wir befinden uns ja in einer Phase, in der es noch um die zu bewältigende Aufgabe einer zusammenfassenden Theologie des Neuen Testaments geht. Dass dabei verschiedene Entwürfe nebeneinanderstehen, überrascht nicht. Die neutestamentliche Theologie von W. ist jedenfalls ein Werk, an dem man nicht vorübergehen kann. Ihm ist für seine eindrucksvolle Darstellung zu danken.