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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

969-970

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jochum-Bortfeld, Carsten

Titel/Untertitel:

Die Verachteten stehen auf. Widersprüche und Gegenentwürfe des Markusevangeliums zu den Menschenbildern seiner Zeit.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 335 S. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 178. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-020162-0.

Rezensent:

David du Toit

Beim anzuzeigenden Buch handelt es sich um eine im Jahr 2006 an der Ruhruniversität Bochum angenommene Habilitationsschrift, die sich zum Ziel setzt, die Grundstrukturen der mk Anthropologie zu erkunden. Der Vf. beginnt mit einem Referat früherer Beiträge zum Thema (Bultmann, Taeger, Schnelle, Wischmeyer, Gnilka, Reinmuth, 11–23) und bescheinigt ihnen eine einseitige Konzentration auf eine defizitäre Konstruktion des Menschen als Sünder (22) und – abgesehen von Reinmuth, vgl. aber zu ihm S. 22, Anm. 70 – eine ungenügende Berücksichtigung der antiken Kultur. Dagegen hält der Vf. fest, dass eine exegetische Untersuchung zu anthropologischen Themen in Mk die Breite und Vielfalt menschlicher Lebensäußerungen wahrnehmen und analysieren muss, und zwar in Zusammenhang mit der antiken Kultur (22). Seine Analyse zeige, dass die in der Antike »gesellschaftlich konstruierten Menschenbilder im [Mk-]Evangelium durchbrochen werden«, da im Mittelpunkt der mk Anthropologie die Würdigung der Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit von Menschen stehe, die gesellschaftlich nicht anerkannt werden (295).
Diese These entwickelt der Vf. in drei Etappen: Zunächst wird in einem methodischen Teil (Kapitel 2 f., 24–44) im Anschluss an soziologische (M. Weber, P. Bourdieu), sozialgeschichtliche (H.-U. Wehlers) sowie kulturanthropologische Ansätze die gesellschaftliche Konstruktivität aller Menschenbilder hervorgehoben (24–26), so­dann anhand der Handlungstheorie von J. Habermas und H. Arendt »ein Analyseinstrument kommunikativer Prozesse« gewonnen (37–44). In einer zweiten Etappe werden »Idealvorstellungen vom Menschen, wie sie innerhalb der Oberschicht« (35 f.) der griechisch-römischen Gesellschaft vertreten worden seien, dargestellt (Kapitel 4–7, 45–163): Es werden gesellschaftliche Konstruktionen von Menschenbildern (anhand Plato, Aristoteles, Cicero, Seneca, Tacitus, 45–93), von Weiblichkeit (124–153) und von Kindern (154–156) in der griechisch-römischen Antike sowie die Kehrseite dieser Bilder (Sklaverei, Patron-Klienten-System, Armut, Judenfeindschaft, 94–123) dargestellt. In einer dritten Etappe (Kapitel 9–13, 164–294) wendet sich der Vf. dem Mk (entstanden in Syropalästina kurz nach dem Jüdischen Krieg, vgl. 164 ff.) zu: Die Erzählungen in Mk 5,21–34; 7,24–30; 10,46–52; 12,41–44; 14,3–9 werden als Gegenentwürfe zur antiken Anthropologie gedeutet (»Menschen stehen für ihre Anerkennung auf«, 164–197), es folgt ein Kapitel über Nachfolge (»Selbststigmatisierung als Handlungsgewinn«, 198–238) mit zum Teil sehr guten Beobachtungen. Es folgen Kapitel über das befreiende Handeln Jesu in den Exorzismen (239–263) und über die Proexistenz des Menschensohnes als Zentrum mk Christologie (264–285), durch die »keine neue Hierarchie etabliert werden [soll], die Menschen klein macht« (276), sondern »die Hoffnung auf eine wahrhaft menschliche Herrschaft Gottes« (296)! Ein kurzes Kapitel ist der Einbettung der mk Menschenbilder in eine Schöpfungs- und Toratheologie gewidmet (286–294, s. auch 301–311). Kapitel 8 (157–163) und 14.1 (295–300) bieten Zusammenfassungen der Darstellungen der antiken Menschenbilder sowie des behaupteten mk Gegenentwurfs.
Eine (dringend notwendige) kritische Auseinandersetzung kann hier nicht erfolgen. Einige Punkte der Kritik werden nur an­gedeutet. 1. Die Darstellung antiker Menschenbilder, die gänzlich an der Sekundärliteratur zum Thema orientiert ist (entsprechend gibt es kein Stellenregister zu den antiken Texten!), dürfte Unkundigen als eine erste Orientierung nützlich sein, Kenner der Materie werden sich aber an der grob vereinfachenden Darstellung und den undifferenzierten Urteilen stoßen. 2. Hauptproblem der Arbeit ist, dass der Vf. unterstellt, die unteren Schichten der Gesellschaft (denen der Vf. die Adressaten des Mk zurechnet) nähmen die von der Elite auf sie projizierte Negativanthropologie an, wären also faktisch handlungs- und kommunikationsunfähig und müssten davon »geheilt« werden. 3. Ignoriert werden ferner die Binnenhierarchien der unteren Schichten, besonders der antiken Haushalte (wie sie auch Mk 9,33 ff.; 10,45 ff. spiegelt). 4. Problematisch ist ferner, dass der Vf. die mk Texte zurechtstutzt, um sie zu seiner These passend zu machen. Dass die Frau in Mk 5,25 ff. – die ja ihr Vermögen aufbraucht, weil sie aktiv Ärzte aufsucht, um von ihrer Krankheit geheilt zu werden! – aus ihrer Passivität befreit werden soll, ist nicht einleuchtend (196). Bei der Auslegung von Mk 7,24 ff. wird ignoriert, dass die nicht-jüdische Frau in einem Akt extremer Demütigung die pejorative Bezeichnung »Hund« für sich und ihr Kind annimmt. Dann kann wohl keine Rede davon sein, dass die Frau als »gleichberechtigte Gesprächspartnerin« auftritt, die als solche akzeptiert wird und »ihren Geltungsanspruch durchsetzt« (196)! Hier wird ausgeblendet, wie stark Mk (und zwar: nicht nur hier) für seine Jesusdarstellung Anleihen bei dem Patronatssystem seiner Zeit macht.
Abgeschlossen wird das Buch mit einem Literaturverzeichnis und einem Stellenregister (in dem allerdings nur neutestamentliche Stellen und einige Stellen aus jüdischen Schriften verzeichnet sind).