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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

965-969

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gäbel, Georg

Titel/Untertitel:

Die Kulttheologie des Hebräerbriefes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XV, 598 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 212. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-148892-4.

Rezensent:

Hermut Löhr

Diese überarbeitete Fassung einer an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal bei Martin Karrer entstandenen Dissertation unternimmt den Versuch, die auffälligen und für den Hebr so charakteristischen »kultischen« Begriffe, Annahmen und Motive kohärent und als soteriologische Entfaltung frühchristlich schon traditioneller Vorstellungen von Erniedrigung und Erhöhung Christi zu interpretieren.
Der methodische Zugriff ist bestimmt durch eine Kombination textsynchroner Einzelexegesen mit sehr umfangreichen traditionsgeschichtlichen Untersuchungen im Bereich des (hebrä­-ischen und griechischen) Alten Testaments und der jüdischen Li­-teratur des Zweiten Tempels und darüber hinaus, jedoch leider ohne Berücksichtigung der Targumim (105 f.). Dagegen werden die semantischen und religionsgeschichtlichen Untersuchungen nicht in den Bereich der paganen griechisch-römischen Literatur ausgedehnt, aus Gründen der thematischen Beschränkung, aber erkennbar auch deshalb, weil G. in diesem Bereich kaum fündig zu werden hofft. Damit erteilt er u. a. neueren Versuchen, den religionsgeschichtlichen Kontext des Hebr im (übrigens auch jüdischen: Philo) Mittelplatonismus (z. B. Wilfried Eisele) zu finden, eine Absage; die ältere Gnosis-These ist ihm ohnehin obsolet. Eine Differenzierung zwischen produktions- und rezeptionsästhetischer Betrachtung des religionsgeschichtlichen Kontextes nimmt die Untersuchung dabei nicht vor. Doch vermeiden die Analysen abgesehen von dieser fundamentalen Beschränkung den Fehler, neue (bzw. in der Forschungsgeschichte ebenfalls schon traditionelle) Einseitigkeiten zu befestigen: Weder nur die Apokalyptik oder gar jüdische merkavah-Spekulation noch der Bezug auf die in Qumran gefundenen Texte allein, auch nicht Judentum statt Hellenismus bilden den diskursiven Kontext des Hebr, wie G. ihn bestimmt.
Zwar ist auch ein im eigentlichen Sinne historisches Interesse vorhanden, es steht aber nicht im Mittelpunkt der Untersuchungen. Deutlich wird dies z. B. in den wertvollen Einblicken in »frühjüdische Heiligtumsdiskurse« (26–111), welche, nach Quellen grob chronologisch geordnet, die Funktionen des Rekurses auf ein himmlisches Heiligtum und auf himmlischen Gottesdienst in frühjüdischen Schriften differenziert herausarbeiten, aber natürlich nicht eigentlich eine ins Detail gehende historische Wahrnehmung der Einzeltexte leisten können. Deutlich wird dies aber auch an den abschließenden knappen Bemerkungen zur historischen Einordnung des Hebr (484–487); der Hebr wird dabei in die Zeit vor 70 n. Chr. datiert und in einem judenchristlichen Milieu situiert, welches mit der Attraktivität des Jerusalemer Tempelkults zu kämpfen habe. Aber Genaueres zum Ort (488: »wo sie [die Adressaten, H. L.] auch leben mögen«), zur sozialen Schichtung oder zur sozialen Gestalt des im Hebr sich aussprechenden Christentums ist nicht zu sagen. In dieser Hinsicht führt die Untersuchung, was angesichts der Quellenlage kaum verwundert, über die bisherigen Aporien der Hebr-Forschung also wenig hinaus.
Die Monographie setzt ein mit einer problemorientierten Skizze der Forschungsgeschichte (3–16), welche die bearbeitete Fragestellung als Desiderat bisheriger Untersuchungen zu erkennen gibt. Dabei wird nicht nur die schon erwähnte religionsgeschichtliche Festlegung vorgenommen. Der Abschnitt markiert auch ex­plizit das Desinteresse der Arbeit an anderen Ansätzen in der Interpretation des sperrigen Textes, wie sozial- und kulturgeschichtlichen Zugängen. Hier und später in den Einzelexegesen finden darüber hinaus ältere strukturanalytische (gewiss manchmal pe­dantische, aber doch auch erhellende) Analysen so geringen Widerhall wie neuere Bemühungen, den rhetorical criticism endlich umfassender auf den Hebr anzuwenden. Auch ein Interpretationsansatz, welcher den Hebr vor allem als Zeugnis der frühchristlichen Hermeneutik und Exegese verstehen will, liegt nicht im Interesse der Untersuchungen. Gerade dies hätte aber angesichts der tatsächlich geleisteten und an Erkenntnissen reichen traditionsgeschichtlichen Arbeit nahegelegen; von der Analyse von Begriffen und Motiven zu derjenigen von intertextuellen Bezügen ist es kein weiter Weg, wie G. selbst etwa durch Einblicke in die Rezeptionsgeschichte von Ps 8,5 (141 f.) zeigt.
Das folgende Kapitel (17–22) stellt zentrale Thesen des Buchs voran, die von den folgenden Abschnitten her gefüllt werden können:
1. Die Hohepriesterchristologie des Hebr erschließe die soteriologische Bedeutsamkeit des überkommenen »Kerygmas« (der sonst in der Exegese selten gewordene Begriff wird unbefangen verwendet) von Erniedrigung und Erhöhung Christi, und zwar so, dass die Darstellung des himmlischen Wirkens nicht einfach die Bedeutsamkeit des irdischen herausarbeite, sondern beides zusammen eine (hermeneutisch gleichwertige) Einheit bilde. Die Vorstellungen von himmlischem Selbst-Opfer und Hohepriester seien also keineswegs nur als Verbildlichung, symbolischer Ausdruck oder Auslegung des Kreuzestodes Christi zu verstehen, sondern nach Auffassung des Textes als neue Etappe auf einem umfassenden, heilschaffenden Weg des Gottessohnes: »Die im Tode kulminierende Selbsthingabe der profanen irdischen Existenz wird im himmlischen Kult als Opfer dargebracht« (464).
2. Die Heiligtumstheologie des Hebr bedeute eine Aufnahme und »grundlegende Umprägung« (vgl. 472) frühjüdischer Argumentationsmuster und setze die Einweihung, Reinigung und Inaugurierung des himmlischen Kultes anstelle des (noch bestehenden) irdischen.
3. Die in dieser Theologie der fortwährenden irdischen Existenz der Christen zugeschriebene Bedeutsamkeit ist diejenige der imitatio Christi in Gehorsam und Glauben, verstanden als Hinzutreten zum und Teilnahme am himmlischen Kult schon jetzt.
Das mit diesen klaren Thesen gegebene Interpretationsangebot ist, zumal für eine Dissertation, reich und umfassend. Dementsprechend sind die dann im dritten Hauptteil, dem eigentlichen Herzstück der Studie (131–466), durchgeführten Einzeluntersuchungen zu für das Thema zentralen Abschnitten des Hebr ausführlich, wenn auch nicht immer frei von Redundanzen oder überraschend eingeschlagenen Abkürzungen. Die durchgehend deutliche Kenntnis von frühjüdischen und -christlichen Quellen und Sekundärliteratur, die in der Argumentation waltende Sorgfalt und Umsicht sowie die faire Art und Weise, wie G. das Gespräch mit der Exegese führt (dass ein deutlicher Schwerpunkt bei der deutschsprachigen Exegese liegt, wird man ihm angesichts der Fülle der Sekundärliteratur und angesichts so vieler möglicher und un­möglicher Thesen, die vertreten werden, kaum zum Vorwurf ma­chen wollen), zeigen die Handschrift eines souveränen Exegeten.
Dabei erleichtern die Zusammenfassungen und Orientierungen die Wahrnehmung des roten Fadens der Argumentation er­heblich. Es ist hier nicht möglich, die Fülle neuer oder neu begründeter Ideen und Einsichten zu entfalten und zu diskutieren, welche sich auf vielen Seiten des Buches finden. Die weitere Arbeit am Hebr wird hier ohne Zweifel reiche Anregungen finden. Exemplarisch herausgreifen möchte ich die Ausführungen zur notorischen »Asche der roten Kuh« nach Num 19 (321–401), welche G., einen Hinweis von William Horbury aufnehmend, als zentral für die am Jom Kippur orientierte Argumentation des Hebr er­weist.
Zu eilig und ohne ausreichende Berücksichtigung des un­mittelbaren Kontexts werden dabei allerdings die βαπτισμοί in 6,2 als Reinigungsrituale abgesehen von der Taufe verstanden (391) und der Hebr insgesamt daraufhin und deshalb mit »einem täuferischen Judenchristentum« zusammenstellt, »wie es zumal aus syrischen Quellen des 2. und 3. Jahrhunderts bekannt ist« (401) – ein zu hoher Turm auf einem zu schwachen Fundament! Auch die sich ergebenden erheblichen Folgerungen für das Verständnis von 13,4 (403) geraten damit ins Schwanken.
Ich beschränke mich auf einige wenige Kommentare zu den drei Hauptthesen:
Ad 1: Dadurch, dass die Untersuchung sich intensiv bemüht, den Text selbst zum Sprechen zu bringen, entgeht sie manchem hermeneutischen Fehl- und Kurzschluss, etwa demjenigen, den Quellen die Sicht zu oktroyieren, alles Transzendente oder Eschatologische sei nur Reformulierung der Bedeutsamkeit des Irdisch-Diesseitigen. Das wäre vielleicht neu-protestantisch, aber nicht antik gedacht.
Freilich zeigen sich in der Untersuchung selbst Schwanken und Unsicherheiten in Bezug auf die hermeneutische und interpretative Begrifflichkeit: So lehnt G. zwar die Rede von der »Spiritualisierung der Kultusbegriffe« ab (19), spricht aber selbst dann von »spirituellem Opferersatz« (57) oder vom »spirituellen Tempel« (77.353). Die Ausführungen zu den Begriffen »Typologie« und »typologisch« (21) sind so knapp wie unbefriedigend. Und ist es wirklich im Kontext ein »übertragener Gebrauch«, der es den jüdischen Quellen erlaubt, von Sünde (bzw. »sittlicher Schuld«) in den Kategorien von Rein und Unrein zu sprechen (417)? Sogar der Begriff des »Opfers«, bisweilen präzisiert (und eingeschränkt?) durch denjenigen der »Opferdarbringung« (z. B. 249.279), scheint zu schillern. Ferner: So sehr eine kohärente Interpretation anzustreben ist, so wenig entgeht man in ihrem Vollzug der Einsicht, dass die Vorstellungswelt des Hebr nicht völlig geschlossen ist (was sich z. B. an dem Vergleich in 13,11 f. zeigen ließe). Der Hebr verarbeitet nicht eine, sondern mehrere frühchristliche »Christus-Fabeln«. In dieser Hinsicht erweist sich die traditionsgeschichtliche Selbstbeschränkung der Arbeit als Verlust (so etwa in Bezug auf die Deutung von Hebr 2,14 f.; der hierzu m. E. besonders fruchtbare Deutungsvorschlag von Harold W. Attridge, 1990, findet keine Erwähnung). Auch die eschatologischen Motive des Textes (Ruhe, himmlisches Vaterland, Allerheiligstes etc.) passen m. E. nicht in ein einziges Bild; hier (z. B. 431) scheint mir die Untersuchung Fehler früherer Exegesen (Joachim Jeremias u. a.) zu wiederholen.
Ad 2: G. zeigt insgesamt überzeugend, dass weniger der Aspekt kultischer Sühne als derjenige der Reinigung für die Soteriologie des Hebr von Bedeutung ist. Dies gilt, wie G. mit guten philologischen Gründen nachzuweisen sucht, vielleicht schon für 2,17. Eine Einsicht mit erheblichen Konsequenzen für die neutestamentliche Theologie insgesamt! Es hätte allerdings auf der Linie dieser Erkenntnis gelegen, auch das Relativieren und Durchbrechen kultisch-soteriologischer Vorstellungen, das sich wiederholt im Hebr beobachten lässt, insgesamt und gleichsam als Korrektiv stärker in den Blick zu nehmen, z. B. in Hinsicht auf die verwendete Terminologie der Sünde oder das Motiv des Neuen Bundes. Ohne eine solche Gegenprobe kann jedenfalls nicht von Kulttheologie als der Theologie des Hebr gesprochen werden.
Ad 3: Es spricht für die Umsicht der Untersuchung, dass der genannte Aspekt einbezogen und somit eine Brücke zum »Sitz im Leben« der Theologie des Hebr geschlagen wird. Ausgehend von der Interpretation des schwierigen Verses 13,10 hätte es jedoch nahegelegen, auf die Bedeutung von Tradition und Praxis des Abendmahls für die Theologie des Hebr näher einzugehen. G. folgt dieser Spur ganz bewusst nicht (vgl. 457 f.) und vernachlässigt so einen m. E. wichtigen Aspekt des frühchristlichen Traditionsgrundes des Hebr. So bleibt die Frage, ob es einen Gottesdienst der »Gemeinde« des Hebr gab und wie dieser ausgesehen haben könnte; G.s Rede vom »himmlischen Kultvollzug der Kultgemeinde des neuen Bundes« (466) allein ist historisch etwas blass.
G. definiert als zentralen Aspekt (frühjüdischen und -christlichen) kultischen Denkens die Unterscheidung von sakralem und profanem Bereich in Korrelation zum Ort der Gottespräsenz (20). Diese (nota bene: beschreibungs-, nicht quellensprachliche!) Un­terscheidung ist gewiss analytisch und heuristisch bedeutsam; sie ist aber natürlich keineswegs der einzig mögliche Zugang zu einer Definition des »Kultischen« in Judentum und Christentum. Und sie ist, das scheint mir im Blick auf die von G. gezogenen Schlussfolgerungen von besonderer Bedeutung, präzise in einen Referenzrahmen einzufügen.
Wenn die kulttheologische Argumentation des Hebr nicht nur den Weg Jesu bis ans Kreuz ganz unkultisch versteht (die Interpretation der synkrisis in 13,11 f. scheint mir jedoch zu weit getrieben, gerade weil sie die Frage nach dem tertium comparationis nicht präzise beantwortet und begrenzt), sondern auch die Lebenswelt der Christen als »profan« zu verstehen gibt, ist dann nicht eine Sphäre der Profanität (und d. h. auch: der Gottesferne) im Gegensatz zu jüdischem wie paganem Denken erarbeitet, welche alltagspraktisch unmittelbar wirksam wird und somit doch (zu 476 f.) erlaubt, in bestimmter Hinsicht von dem Ende des kultischen Denkens zu sprechen? Anders gewendet und zugespitzt formuliert: Ist ein einmaliges Opfer nicht eine bewusste contradictio in adiecto? G. entgeht dieser Schlussfolgerung m. E. nur deshalb, weil er dem ständigen fürbittenden Eintreten des Hohenpriesters (7,25; nach G. auch 2,17) im Heiligtum (daher kultisch!) eine (zu) große, die »Theologie der Einmaligkeit« des Hebr geradezu konterkarierende Bedeutung beimisst.
Wir sind mitten im Gespräch mit der anzuzeigenden Studie. Es ist ihr großes Verdienst, nicht nur viel Neues zur textanalytischen und besonders zur traditionsgeschichtlichen Erhellung des Hebr beizutragen, sondern auch die angedeuteten theologisch-hermeneutischen Fragen anzuregen.