Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2010

Spalte:

962-965

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Elmer, Ian J.

Titel/Untertitel:

Paul, Jerusalem and the Judaisers. The Galatian Crisis in Its Broadest Historical Context.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. X, 249 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 258. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-149807-7.

Rezensent:

Ingo Broer

Die auf eine Dissertation an der australischen katholischen Universität zurückgehende Monographie kreist um die galatische Krise, deren Verständnis sie auch durch die Einbeziehung der Vor- und Nachgeschichte zu erhellen versucht. Damit weitet sich die Fragestellung aus, und die Studie nähert sich einer Geschichte der frühen Urgemeinde.
Im Anschluss an einen Literaturüberblick und eine Beurteilung der Quellen wendet sich der Vf. der ältesten Jesusbewegung zu und sieht diese als von ihren ältesten Tagen an in zwei ganz gegensätzliche Gruppen geteilt an. Im Unterschied zu dem hebräischen Teil der Urgemeinde, der die Grenzen der jüdischen Praxis nicht überschritt und die Gültigkeit des Tempelkultes und des mosaischen Gesetzes nicht infrage stellte, gab es die Hellenisten, praktisch alles Griechisch sprechende, als Juden geborene Anhänger der Jesusbewegung, die in einem eigenen Viertel lebten, an andere Schriften (Septuaginta) und andere exegetische Traditionen gewohnt waren, zu anderen Synagogenvereinigungen gehörten, einen eigenen Gottesdienst, eine eigene Führung und eigene Missionsgebiete hatten. Die Eigenart der Hellenisten lässt sich weniger aus dem Bericht des Lukas in der Apostelgeschichte als aus den der Apostelgeschichte zugrunde liegenden Quellen rekonstruieren, da Lukas die schwerwiegenden Differenzen zwischen den Hellenisten und den übrigen Mitgliedern der Urgemeinde in seinem Werk generell überspielt. Das Fehlen des aramäisch sprechenden Teils der Urgemeinde bei der Verteidigung des Stephanus zeigt die Tiefe der Differenzen zwischen den beiden Teilen der Gemeinde. Die müssen so gravierend gewesen sein, dass der aramäisch sprechende Teil der Urgemeinde mit den Maßnahmen gegen Stephanus einverstanden gewesen ist. Letzterer hat im Übrigen in der Tat Tempel und Gesetz attackiert.
Damit ist sozusagen der cantus firmus der Arbeit erreicht, der im Weiteren entfaltet wird: Der Gegensatz und der massive und unversöhnliche Widerstand der Jerusalemer Urgemeinde unter Jakobus (und zum Teil Petrus) gegen die allein von den Hellenisten betriebene gesetzesfreie Heidenmission (die praktisch schon bei der Tötung des Stephanus bestehen) sind der Schlüssel für die Opposition gegen Paulus in Galatien, Korinth und Philippi.
Paulus kam in Damaskus mit den hellenistischen Christusgläubigen in Kontakt, seine Bekehrung dort kann nur als Hinwendung zu einer anderen innerjüdischen Gruppe verstanden werden. Die Bekehrung bestand in seiner Berufung zur Heidenmission, die Im­plikationen für das Gesetz waren »corollaries«, und die Konsequenzen gingen ihm erst allmählich im Laufe seiner Mission in Antiochien auf. Gal 5,11 zeigt, dass Paulus bis zu seiner Begegnung mit den »dissident and apostate Hellenists at Antioch« noch ein geset­-zesobservantes Evangelium verkündet hat. (Diese Aussage wird freilich auf S. 149 dahingehend etwas eingeschränkt, dass bis zu seinem Aufenthalt in Antiochien »his attitude towards the Law-ob­servant mission was more conciliatory than it would later become«.)
Die Probleme, die schließlich zum Apostelkonzil geführt haben, sind in Antiochien durch eine Abordnung aus Jerusalem entstanden, die unter anderem von Jakobus stammte, die Verbreitung des radikalen Evangeliums der Hellenisten verhindern und die heidnischen Konvertiten zur Übernahme des gesamten jüdischen Gesetzesprogramms zwingen sollte. Paulus, Barnabas und Titus gehen als offizielle Repräsentanten der Kirche von Antiochien nach Jerusalem (dabei liegt ihre Mission in Galatien bereits hinter ihnen [südgalatische Hypothese, Apg 13 und 14]), um diese Frage zu klären. Das Ergebnis des Apostelkonzils laut Apostelgeschichte ist nicht erst heute, sondern war offensichtlich schon damals unterschiedlich zu verstehen und kann unmöglich historisch sein – die Toraobservanz des Jakobus und der Jerusalemer Urgemeinde stehen dem absolut entgegen. Auch das Verhalten von Petrus und Barnabas in Antiochien spricht nicht für ein eindeutiges Ergebnis des Apostelkonzils – ansonsten wären diese nicht den Jakobusleuten gefolgt, sondern hätten sich gegen diese mit Paulus auf das Apos­telkonzil berufen. Das Apostelkonzil hat so offensichtlich keine endgültige Entscheidung getroffen, obwohl weder Jakobus noch die Urgemeinde Antiochien die Fortführung der unabhängigen Hei­denmission gestattet haben, und Jakobus hat nach seinem »pro-circumcision putsch« (so häufiger) im antiochenischen Konflikt er­folgreich versucht, die Dinge in seine Richtung zu lenken und von den Antiochienern die volle Befolgung des Gesetzes unter Einschluss der Beschneidung zu verlangen. (Warum Paulus das in Gal 2 nicht deutlich sagt, erläutert der Vf. freilich nicht.) Paulus scheint jedenfalls diesen Kampf verloren, keinen seiner Anhänger und Mitarbeiter für seinen Weg gewonnen und Antiochien schon bald verlassen zu haben, ohne je nach dort zurückzukehren. Auch die Verbindung zwischen Paulus und Jerusalem scheint im Gefolge dieser Auseinandersetzung für eine Dekade abgeschnitten gewesen zu sein. Das Ergebnis dieses Prozesses waren »two, distinctly different forms of faith in Jesus Messiah«; die eine verblieb vollkommen im Rahmen des Judentums, während die andere auf die Beschneidung und den Gesetzesgehorsam verzichtete (womit sich eigentlich nichts geändert hat, sondern der schon lange, eigentlich quasi von Anfang an bestehende [vgl. u. a. 214] status quo aufrecht­erhalten, freilich jetzt sozusagen legitimiert oder offizieller Kurs wurde). Dieser Konflikt ist auch der Grund für die galatische Krise, deren Verursacher zu derselben Gruppe gehören wie die Falschbrüder in Antiochien und Jerusalem sowie die Jakobusleute beim antiochenischen Konflikt und die unter Berufung auf die Urgemeinde von Jerusalem den vollen Gesetzesgehorsam von den eigentlich zum antiochenischen Missionsbereich gehörenden Ga­latern verlangen. Es ging also bei allen drei Gelegenheiten, in Jerusalem, beim antiochenischen Konflikt und in Galatien, letztlich immer um dieselbe Frage: die Fortdauer des Gesetzes. »The only possible conclusion that one can draw is that Paul is fighting, on several fronts, a war against a single group of adversaries whose origins must be attributed to the circumcision party around James at Jerusalem.« (161) Das Abrahamthema wurde von den Gegnern des Paulus in Galatien eingeführt, da Abraham im Alten Testament fest mit der Beschneidung verbunden ist. Paulus hätte dieses Thema von sich aus nie berührt, da hier vom Alten Testament aus viel zu viele Einwände gegen seine Position möglich waren. Aus diesem Grunde gehen auch die Bezugnahmen auf die paulinische Vergangenheit im Gal auf Vorwürfe der Gegner zurück: Unter anderem sei er in seinem Apostolat von den Aposteln abhängig, verfälsche aber gleichzeitig deren Evangelium. Paulus hält seinen Gegnern entgegen, dass der Tod Christi die einzige und ausreichende Ursache für die Rechtfertigung ist, ohne das Gesetz, und dass es nach dem Chris­tusereignis keine Grenze mehr zwischen Juden und Heiden gibt.
Auch die Gegner des Paulus in der Korintherkorrespondenz und im Philipperbrief fordern die Beschneidung sowie die Beobachtung des Gesetzes und stehen in Verbindung mit Jerusalem, aber auch mit Antiochien und Galatien.
Von den zahlreichen für die Kollekte vorgeschlagenen Gründen, die der Vf. diskutiert, leuchten ihm außer der symbolischen An­-erkennung der Macht und Autorität der Säulen vor allem ein: Mittel der Einheit von jüdischer und heidnischer Jesusbewegung, Wunsch nach Frieden mit Jerusalem und Beendigung der Aktionen der Judaisten gegen die Mission des Paulus, Beweis für die christliche Solidarität und die Authentizität des heidnischen Glaubens. Allerdings haben diese Motive des Paulus nicht zum Erfolg geführt, denn aus der Tatsache, dass sich die jüdischen Anhänger der Jesusbewegung in Jerusalem nach Ausweis der Apostelgeschichte in keiner Weise bei den jüdischen Autoritäten für Paulus verwendet haben, schließt der Vf., dass Jakobus und die Jerusalemer Gemeinde die Kollekte nicht angenommen haben und auch nicht zu Kompromissen gegenüber Paulus und seiner gesetzesfreien Mission bereit gewesen sind.
Der Vf. liefert zweifellos ein geschlossenes Bild der Urgemeinde und der Entwicklung der Jesusbewegung bis zur Abfassung des Röm, er entwirft ein konsequentes, ganz auf die Spannungen zwischen Hebräern und Hellenisten fixiertes Bild, das kaum Zwi­schentöne, Unschärfen und Inkonsequenzen zulässt; so kann z. B. die Kollekte des Paulus in Jerusalem nicht angenommen worden sein, weil dies nur möglich gewesen wäre, wenn beide Seiten sich irgendwie angenähert hätten und zu Kompromissen bereit gewesen wären, was aber auf beiden Seiten sehr unwahrscheinlich ist. Der Vf. diskutiert auch viel mehr Probleme, als hier dargestellt werden konnte, und entscheidet sich jeweils nach Diskussion wichtiger Argumente für seine Linie. Der Maßstab, nach dem hier geurteilt wird, findet sich auf S. 161: »The letter also gives us a window on their (Jakobus, Petrus und Paulus) limitations and flaws, which all-too-often seem to mirror our own.« Dem Werk liegt in der Tat der Maßstab der historisch-kritischen Methode zugrunde, aber die Wirklichkeit des vor unseren Augen Geschehenden mag gelegentlich doch vielfältiger sein – sowohl das unversöhnliche Auskämpfen von Gegensätzen als auch das Schließen von Kompromissen entsprechen der Wirklichkeit! Dasselbe gilt für das Machtbewusstsein – es gibt Kirchenführer mit einem solchen, aber auch ohne ein solches. Insofern sind an die Schärfe des zugrunde liegenden Modells der Urgemeinde Fragen zu stellen, was aber der Qualität der Arbeit keinen Abbruch tun soll. Lassen wir die Frage der Opponenten in Korinth einmal ebenso offen wie die Frage, ob man nicht besser von der eigenen These unabhängige Beweise suchen sollte, um die Gefahr des Zirkelsschlusses zu vermeiden. Die grundlegende These von der Gesetzesfreiheit und der Tempelkritik schon bei Stephanus zeigt der Vf. schön in ihrer Problematik auf, findet aber m. E. zu keiner befriedigenden Lösung. Woher kommt, wenn die Hellenis­ten das Evangelium ausschließlich von der aramäisch sprechenden Urgemeinde empfangen haben, in so kurzer Zeit bei ihnen die Gesetzesfreiheit (wenn sie nicht, was der Vf. ablehnt, zumindest einen gewissen Anhalt beim historischen Jesus hat)? Das gilt insbesondere dann, wenn man die Hellenisten mit der neuesten Arbeit über diese nicht als »Liberale«, sondern als »Eiferer für das Ge­setz« wie den vorchristlichen Paulus ansieht (Zugmann). Ist, wenn die Tötung des Stephanus eher spontan und mobartig geschah, wofür schon das den Juden fehlende ius gladii spricht, das Fehlen der Unterstützung des Stephanus vonseiten der aramä­ischen Urgemeinde so erstaunlich? Dasselbe gilt für die Hypothese, dass Paulus zwar in Damaskus die Hellenisten verfolgt und sich bekehrt hat, zur gesetzesfreien Mission aber erst in Antiochien gelangt ist. Warum soll das erst in Antiochien geschehen sein, wo doch die hellenistische Mission in Damaskus angesichts der paulinischen Verfolgung ebenfalls gesetzesfrei gewesen sein wird? Und ist mit diesem Bild von der Urgemeinde das Martyrium des Jakobus noch verständlich zu machen? Das Modell eines völlig unversöhnlichen Gegeneinanders von Hellenisten und aramäischer Urgemeinde ist möglicherweise doch zu starr.