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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

127–130

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Goldingay, John

Titel/Untertitel:

Models for Interpretation of Scripture

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 1995. X, 328 S. gr.8°. Kart. $ 20,­. ISBN 0-8028-0145-5.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Mehr als ein akademisches Unternehmen will dieses neue Buch des bekannten Alttestamentlers aus Nottingham sein. Schon die Widmung an Studenten in Südafrika, "für die Schriftinterpretation nicht nur ein Prüfungsgegenstand, sondern eine Angelegenheit auf Leben und Tod ist" (V), zeigt diese Ausrichtung auf die Praxis, genauer: auf mögliche Wirkungen der Schrift in der Praxis. Gemeint ist vor allem die Praxis des Predigers, die in jedem der vier Teile eine wichtige Rolle spielt, weil nach G.s Überzeugung die Bibel ihrem Wesen nach auf die Kanzel gehört: "Sie ist dort vielleicht mehr zu Hause als im universitären Studium" (8).

Der Aufbau des Buches orientiert sich an den vier von G. herausgearbeiteten Grundtypen biblischer Rede: 1. Erzählung, 2. Weisung, 3. Prophetie und 4. Zeugnis von Offenbarung, Erfahrung und Reflexion. Der vierte Typ stellt ein eigenartiges Konglomerat verschiedener Textsorten dar; man kann sich kaum gegen den Eindruck wehren, daß hier alles seinen Platz fand, was sonst nicht unterzubringen war. Das Prinzip, das G. verfolgt, ist jedoch klar: Der Vielfalt der biblischen Texte muß eine Vielfalt der hermeneutischen Zugänge entsprechen. "Texte müssen als das interpretiert werden, was sie sind" (7).

Den 1. Hauptteil (13-86) über die Interpretation von Erzähltexten eröffnet G. mit der Feststellung, daß es für das Verstehen von Erzählungen keinen Unterschied macht, ob sie fiktiv oder nicht-fiktiv sind. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, welchen Beitrag dann historische Bemühung für das Textverständnis leisten kann. Quellen-, Traditions- und Redaktionskritik werden von G. zwar nicht abgelehnt, aber doch in ihrer Bedeutung relativiert: Es sei hilfreich zu sehen, wie ein Erzähltext mit den zugrundeliegenden historischen Gegebenheiten umgeht, und dazu müsse man diese erst einmal kennen; die diachronischen Schritte seien aber noch nicht das Ziel, auch wenn sie oft damit verwechselt werden. G. fühlt sich mit der seit einiger Zeit stattfindenden Aufwertung von synchronischen Methoden, die sich auf Form und Strukur des Textes in seiner Endgestalt konzentrieren, völlig einverstanden. Andererseits zeigt G.s knapper Überblick über struturalistische (24-27), dekonstruktivistische (27-30) und sprechakttheoretische Zugänge zur Bibel (33-35), daß er auch deren Grenzen erkennt. So spricht er sich z. B. dezidiert für die Berechtigung und Bedeutung der Annahme einer referentiellen Welt außerhalb des Textes aus (31 f.). Ein ganzes Kapitel (36-55) widmet G. leser-orientierten Ansätzen.

Bei solchen Zugängen geht es um "das Wesen der Leser, die eine Erzählung voraussetzt, und... die Wirkung, die die Gestaltung einer Erzählung auf sie haben soll" (36 f.). Wichtig sind dabei offene Fragen, Doppeldeutigkeiten oder Leerstellen im Text, die vom Leser zu beantworten bzw. aufzufüllen sind; die Wahrnehmung solcher Elemente ist nicht einfach auf unsere mangelhafte Kenntnis der damaligen Sprachkonventionen zurückzuführen, sondern sie sind im Text bleibend angelegt. Sie bieten neuen Lesern die Möglichkeit, ihren eigenen Kontext zur Geltung zu bringen. Feministische und befreiungstheologische Exegese ­ zwei Richtungen, auf die G. im Verlauf des Buches immer wieder zu sprechen kommt ­ gehören insofern hierher, als sie vor ihrem jeweiligen besonderen Hintergrund Aspekte der Texte wahrnehmen können, die anderen Leserschaften entgehen. Für alle gilt freilich: "Diejenigen, die vorgeben, objektiv und kritisch zu sein und dann ihre eigenen (aufklärerischen oder existentialistischen oder feministischen) Anliegen in den Texten, die sie untersuchen, finden, haben eine Portion Selbstzweifel nötig" (45).

G. tritt der Auffassung, daß der Sinn eines Textes immer und ausschließlich von den Lesern produziert wirt, entschieden entgegen. Ein Text hat mehr als einen, aber nicht beliebig viele Sinne.

Der erste Teil wird abgeschlossen mit Hinweisen auf Implikationen für die Interpretation (56-70) und für die Predigt (71-86). Nur weniges kann hier angedeutet werden. Biblische Erzähltexte wollen weniger Modelle oder Beispiele für richtiges Verhalten vor Augen stellen, als vielmehr "die Ereignisse, auf denen der Glaube beruht, zum Leben erwecken. Es sind Ereignisse, die sich in unserer Erfahrung nicht wiederholen werden, aber... von entscheidender Bedeutung für uns bleiben" (60). Dabei sind, so G., die einzelnen Erzählungen nicht für sich zu nehmen, sondern als Teile einer Makro-Erzählung zu verstehen, in der z. B. von vielen Exodussen oder Bundesschlüssen die Rede ist. Hier kündigt sich bereits seine Vorliebe für canonical criticism an, die an vielen Stellen des Buches zu spüren ist.

Die Überschrift des zweiten Teils (87-138): "Scripture as Authoritative Canon: Interpreting Torah" ist etwas mißverständlich. Es geht keineswegs nur um die Deutung der Tora im engeren Sinne, sondern um ethisch-normative Bibeltexte insgesamt und darüberhinaus um die verpflichtende Funktion des Kanons. Die Probleme biblischer Ethik werden sehr klar gesehen. Um konkrete Weisungen übersetzbar und heute anwendbar zu machen, muß man oft das zugrundeliegende Prinzip erkennen. Das ist nicht immer einfach: Ein schönes Beispiel ist die Verurteilung der Homosexualität durch Paulus ­ was ist an dieser Norm verpflichtend? Problematisch ist es auch, wenn an verschiedenen Stellen der Schrift unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage gegeben werden. G. vertritt hier einen sehr stark vermittelnden, um nicht zu sagen: harmonisierenden Ansatz, was bei seiner positiven Einstellung gegenüber dem Kanon nicht verwundert. Ein Beispiel: Man muß nach G. "die komplementäre Natur der Gebote des Dekalogs, wo diese negativ und äußerlich sind, und der der Bergpredigt, wo diese positiv und innerlich sind, sehen ­ und die bleibende Bedeutung der ersteren für die letzteren wahrnehmen" (102). Von solchen Überlegungen schreitet G. weiter zur Rolle des Kanons für die biblische Ethik. Die Lösung eines "Kanons im Kanon" lehnt er weitgehend ab. Einer "Hermeneutik des Verdachts", die manche Teile der Schrift als einer zeitbedingten Ideologie entsprungen und darum nicht verpflichtend ansieht, wird zwar nicht jede Berechtigung abgesprochen; es wird ihr aber entgegengehalten, daß auch das eigene Urteil ideologisch ist und von der Schrift kritisiert werden kann. Gerade Stellen, die uns verdächtig erscheinen, können solche sein, die uns über unseren beschränkten Horizont hinaushelfen. Das hat nach G. kritische Bedeutung für die Art und Weise, wie z. B. die Befreiungstheologie mit der Bibel umgeht.

Es ist m. E. unbedingt richtig, daß gerade Aussagen der Bibel, die uns fremd oder unerträglich erscheinen, besonderes Gehör verdienen ­ sich aber von vornherein selbst jede Möglichkeit zur Kritik zu nehmen, hat mit Hermeneutik nichts mehr zu tun. Auch die Bedeutung, die G. im Anschluß an Childs u. a. dem canonical process für die Interpretation zuschreibt, läßt sich in meinen Augen kaum rechtfertigen: "Der Text, wie wir ihn haben, ist der, den die gläubige Gemeinschaft als theologisch bedeutungsvoll beurteilt hat. Die älteren Traditionen, die die Gemeinschaft bestätigte, überleben in dem Text, wie er existiert; die, die sie ablehnte, überleben nicht. Ebenso bestätigt der Text dadurch, daß er die Aufmerksamkeit auf Autoren und historische Kontexte lenkt oder dies nicht tut, die Bedeutung der Intentionen der Autoren und die Wichtigkeit, den Text in einem bestimmten Kontext zu lesen, oder tut dies eben nicht" (132). Ist diese Haltung nicht eine zu enge Vorgabe für die Arbeit des Exegeten?

Der m. E. überzogene Optimismus bezüglich der Fähigkeit des Kanons, seine eigene Auslegung zu regulieren, zeigt sich besonders schön bei G.s Beurteilung des bekanntlich unechten, aber kanonischen Markusschlusses: Der Anhang bringe das Zeugnis des Markus in Harmonie mit den anderen Evangelien, ohne es abzuschwächen (137). Muß man nicht vielmehr sagen, daß das ursprüngliche Anliegen, das Mk mit seinem auffällig abrupten Schluß verfolgte, in der längeren Form tatsächlich nicht mehr zur Geltung kommt?

Der dritte Teil, der die Interpretation biblischer Prophetie behandelt (139-199), setzt bei der Rezeption der atl. Propheten durch das NT ein. Im NT wird durchweg den prophetischen Texten ein Sinn zugeschrieben, den sie für ihre Autoren nicht hatten, den aber die ntl. Interpreten aufgrund des Jesus-Ereignisses für den wahren, gottgegebenen Sinn hielten. Die Frage, ob Exegese heute diese Art freier, oft allegorischer Deutung übernehmen kann, wird von G. nachdenklich abgewogen.

Auf der einen Seite steht die christliche Praxis, die in der Regel einen ähnlichen Zugang zur Bibel aufweist und damit gute Erfahrungen macht. Auch die Befreiungstheologie oder manche belletristische Literatur übertragen prophetische und andere Bibeltexte in großer Freiheit auf die je eigene Situation. Andererseits aber ist für G. vor allem die Beachtung der Ursprungssituation wichtig: "Wenn ich sehen soll, wer der Priester, der Levit und der gute Samariter in einer zeitgenössischen Gesellschaft sein sollen, muß ich wissen, wer sie damals waren" (165). Die Entscheidung bleibt letztlich offen.

In diesem Zusammenhang kommt nun G. in einem eigenen Kapitel auf die Bedeutung historischer Interpretation zu sprechen. Da Gott in bestimmten historischen Kontexten sprach, muß Gottes Wort auch in seiner historischen Bestimmtheit verstanden werden. Was die Propheten betrifft, kann man ihre persönlichen Besonderheiten nicht übergehen. G.s Aussagen sind in diesem Kapitel aber so allgemein, daß alle Arten von Schrifttexten betroffen sind. Es ist nicht ganz leicht, die positiven Aussagen zur historischen Interpretation, die man hier findet (z. B.: "Bibelkritik ist der Freund der Autorität der Schrift, denn sie besteht darauf, zur Kenntnis zu nehmen, was die Schrift tatsächlich sagt, und nicht, was ihre Apologeten sie meinen lassen wollen" [176]), mit der oben genannten Skepsis zusammenzubringen, auch wenn G. mehrfach betont, daß Interpretation tiefer als bis zur historischen Ebene vordringen muß.

Im 4. Teil (203-287) geht es um die Interpretation von apokalyptischen Texten, Psalmen, Weisheitsbüchern und Briefen, die für G. alle Offenbarung, menschliche Erfahrung und Reflexion kombinieren ­ eine, wie gesagt, problematische Mischung.

In einer langen Auseinandersetzung mit dem Demythologisierungs-Programm Bultmanns sieht G. durchaus dessen positives Anliegen, weist es aber in enge Schranken; z. B. sei die Vorstellung der Schrift von einem Ende der Zeit und einem folgenden Neubeginn mehr als eine Metapher (214). Ähnlich wird Schleiermachers und Diltheys Programm der Einfühlung in die Erfahrung der biblischen Autoren stark relativiert. Nicht Einfühlung, sondern eine mit dem Text gemeinsame Erfahrung ist Voraussetzung für das Verständnis: "Kommunikation beginnt mit einer geteilten Erfahrung und einem geteilten Interesse" (221). Das bedeutet freilich, daß auch nur die Aspekte des Texts bzw. der Schrift kommuniziert werden, auf die das zutrifft. G. stellt deshalb völlig zu Recht fest, daß es darauf ankommt, "unsere Horizonte zu erweitern, und diese Erweiterung kann es erforderlich machen, daß wir uns nicht länger durch die Fragen begrenzen lassen, die wir an den Text herangetragen haben" (224). Dabei kann die Beachtung der Wirkungsgeschichte helfen, aber auch die historische Rückfrage nach dem Textverständnis der ursprünglichen Adressaten.

Die Interpretation solcher (aber eben auch anderer) Texte geschieht nicht auf rein individueller Basis, sondern im Rahmen einer Interpretationsgemeinschaft. Die Grenzen dieser Gemeinschaft können sehr unterschiedlich weit gesteckt sein. G. behandelt der Reihe nach die Besonderheiten der christlichen Gemeinde, der akademischen Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Weltkirche, der gesamten Menschheit als Basis der Interpretation. Für jede spezifische Gemeinschaft kann er dabei eigene Stärken und Schwächen, Chancen und Grenzen aufweisen. Immer aber gehören s. E. bei der Interpretation verschiedene Schritte zusammen, die leider oft arbeitsteilig und unabhängig voneinander vollzogen werden: Exegese (historisches Verstehen des Einzeltexts), Systhese (Einbindung des Texts in den Kontext der Schrift), Aneignung (ganzheitliche Reaktion des Lesers auf den Text), Applikation (Anwendung auf heutige Anliegen) und Kommunikation (Weitergabe der Ergebnisse der Interpretation) (251). "Die zentrale Tragödie der Geschichte der Bibelwissenschaft in den letzten zwei Jahrhunderten besteht darin, daß der objektive, distanzierende, kritische Zugang zur Schrift und der gehorsame, vertrauende, erfahrungsbezogene Zugang im wesentlichen unabhängig voneinander fortgeschritten sind" (264). Zwar sei ersterer besser für theologische Texte wie Briefe, letzterer für erfahrungsbezogene Texte und Erzählungen geeignet, dennoch seien beide komplementär aufeinander bezogen und bei jedem Text unverzichtbar. Ein abschließendes Kapitel (266-287) zeigt, was diese Einsicht für die Arbeit des Predigers bedeuten kann.

Meine Vorbehalte gegenüber G.s Buch kamen bereits zur Sprache: Die Gliederung nach Textsorten wird dem Anliegen nicht gerecht und bedingt Brüche und Wiederholungen. Das Zutrauen zum Kanon ist mir zu groß, das zu traditonsgeschichtlicher Arbeit zu klein. Abgesehen von diesen Kritikpunkten, in denen man zweifellos verschiedener Meinung sein kann, ist G.s Buch aber ein sehr gut zu lesender, mit vielen treffenden Beispielen aus AT wie NT arbeitender Überblick, der die persönliche Beteiligung des Autors nicht verbirgt und zugleich zuverlässig in die Diskussion um die verschiedenen Zugänge zur Schrift einführt.