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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

953-955

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Enger, Philipp A.

Titel/Untertitel:

Die Adoptivkinder Abrahams. Eine exegetische Spurensuche zur Vorgeschichte des Proselytentums.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2006. 537 S. m. Tab. 8° = Beiträge zur Forschung des Alten Testaments und des Antiken Judentums, 53. Kart. EUR 91,40. ISBN 978-3-631-53707-7.

Rezensent:

Thomas Naumann

Die Frage, ob das frühe Judentum als eine missionarische, d. h. auf die Gewinnung von Konvertiten zielende Religion anzusprechen ist, wird in der neueren Forschung weitgehend verneint. Zwar gibt es in der frühjüdischen Literatur deutliche Hinweise auf eine Konversionsoption zum Judentum, schon die LXX übersetzt das hebräische Wort gēr (Fremder) in der Regel mit der sprachlichen Neuschöpfung proselytos, aber es fehlen alle Hinweise auf eine organisierte, institutionell und rituell abgesicherte Proselytenwerbung von jüdischer Seite. Damit wird auch die häufiger vertretene These obsolet, dass die frühchristliche Mission in enger Anlehnung an jüdische Missionspraxis etabliert wurde. Die Grundlagen früh­christlicher Mission dürften eher in der endzeitlichen Erfahrung der Gottesherrschaft begründet liegen als in der Übernahme seit Jahrhunderten etablierter jüdischer Missionspraktiken. Mit dieser Neuorientierung in der Forschung in den 90er Jahren steht auch eine beliebte These infrage, wonach sich das alte Israel ab der exilisch-nachexilischen Zeit den Völkern gegenüber zunehmend geöffnet und damit in den spätalttestamentlichen Texten bereits mit dem Konzept des »Proselyten« die Grundlagen für die frühjüdische und später die christliche Mission geschaffen habe.
Die bei Peter Welten in Berlin gearbeitete alttestamentliche Dissertation von Philipp A. Enger will in dieser Debatte einen Beitrag leisten. Dabei ist der Untertitel »Eine exegetische Spurensuche zur Vorgeschichte des Proselytismus« programmatisch zu verstehen, denn E. will vermeiden, seine Suche anachronistisch vom späteren Konzept des Proselytismus bestimmen zu lassen. Stattdessen untersucht er die Einzelphänomene in den Texten, die für das spätere Entstehen einer Konversionsoption zum Judentum eine Rolle gespielt haben könnten. Mithilfe der sozialwissenschaftlichen Konversionsforschung sucht E. den Begriff der Konversion genauer einzugrenzen. Bei Konversionen als dauerhafter persönlich-religiöser Veränderung müssten drei Indikatoren beobachtbar sein: 1. die Veränderung der kognitiven Grundeinstellung (durch Be­kenntnis und Ritual), 2. eine Neuorientierung der Mentalitäts- und Verhaltensmuster, die häufig mit einem Wechsel der Bezugsgruppe und etablierter Loyalitätsverhältnisse einhergeht, sowie 3. der soziale und religiöse Statuswechsel in Form der Integration in eine neue Gemeinschaft (52 f.). Am aussagekräftigsten sind die alttestamentlichen Texte im Blick auf Indikator 3, weil es in ihnen vor allem um die Selbstdefinition einer Gemeinschaft gegenüber nahen oder fernen »Fremden« geht, während sie sich für die persönlichen und religiösen Befindlichkeiten der betroffenen Menschen kaum interessieren.
Unter diesen Gesichtspunkten nimmt E. einen Großteil der hier relevanten Texte in den Blick, und zwar in der Reihenfolge ihrer kanonischen Anordnung, um nicht in die Falle entwicklungsgeschichtlicher Schematisierungen zu gehen. Dies sind vor allem gēr-Texte, die E. in steter Auseinandersetzung mit den einschlägigen Monographien von C. Bultmann und C. van Houten behandelt. Gegenüber Bultmanns Orientierung an den dtn/dtr Modellen liegt bei E. der Schwerpunkt auf den (spät)priesterlichen Texten in Exodus bis Numeri. Und es sind im Sinn der Fragestellung verwandte Phänomene wie die Jona- und Ruterzählung, die Naaman-Episode (2Kön 5), die Gibeoniter in Jos 9, die Mischehenfrage in Esra/Nehemia sowie die »Konversionsnotizen« in Jes 56,1–8; Est 8,17; 9,27, die sein Interesse finden.
Im Ergebnis kommt E. durchweg zu negativen Befunden: »Das Phänomen des Proselyten in der Septuaginta und zwischentestamentlichen Zeit hat keine einlinige Vor- oder Frühgeschichte in der ersttestamentlichen Epoche« (515). Es gibt zwar verschiedene Vorläufermodelle einer »Teilintegration« von Fremden in die jüdische Gemeinschaft. Aber eine »methodisch abgesicherte Entwick­lungsgeschichte läßt sich so kaum rekonstruieren. Die Einzelphänomene bleiben für sich stehen und ergeben ein in Begrifflichkeit, Darstellungsweise und Konzeption disparates Bild unterschiedlicher Lösungsversuche der Frage nach dem Verhältnis der Nicht-Israeliten und Nicht-Israelitinnen zu JHWH – nicht umgekehrt« (515).
Das Thema wird ohnehin erst in nachexilischen Texten virulent, die sich mit der ethnisch und religiös heterogenen Bevölkerungssituation in der nachexilischen Provinz Jehud befassen und die Bedingungen einer weitgehenden Angliederung an die jüdische Tempelgesellschaft reflektieren. Während die spätdeuteronomistische Traditionslinie eng an der vorexilischen Solidartradition mit dem gēr als abhängigem und sozial schwachem Ortsfremden verbleibt, entwickelt die spätpriesterliche Tradition einen Begriff des gēr, der darüber deutlich hinausgeht. Der gēr wird zunächst umfassend in die sozialen Verpflichtungen und Schutzbestimmun­gen einbezogen (Verunreinigungsgebot, Ausbeutungsverbot, Liebesgebot, Nutznießer im Jobeljahr, Einbeziehung in das Asylrecht u. a.). Andererseits bleibt er vom Landerwerb ausgeschlossen, kann aber als solcher auch als Modell Israels coram deo dienen. In religiöser Hinsicht kann er Opfer darbringen und – sofern er beschnitten ist – das Pesachritual vollziehen, muss sich vor Verunreinigung hüten, bleibt aber vom Verbot der Profanschlachtung ausgenommen. Er ist zur Ausrichtung von Gemeinschaftsmählern nach jüdischem Ritus befähigt, was ihm nicht nur den Kontakt zu den jüdischen Mitbewohnern, sondern auch die Teilnahme am öffentlichen und privaten Opferkult des Jerusalemer Tempels ermöglicht. Gleichwohl bleibt er gegenüber der jüdischen Gemeinschaft ein Fremder, bestenfalls ein Gast, der aber eine rudimentäre Beziehung zu Jhwh aufbauen kann, die an »bestimmten Punkten an die Qualität der persönlichen Gottesbeziehung durchschnittlicher jüdischer Laien heranreichen konnte« (237), wofür insbesondere die Beschneidung steht. Doch auch der das Pesach feiernde beschnittene gēr in Ex 12,48 f. ist noch kein Proselyt, er wird nicht in die Gemeinschaft aufgenommen. Hintergrund und Motivation für diese dennoch weitreichende priesterliche Konzeption liegen nicht im Bedürfnis, die jüdische Religion für Fremde zu öffnen, sondern in der Reflexion darüber, welches Verhalten angesichts des in der Mitte seines Volkes in Jerusalem thronenden Gottes und seiner Heiligkeit auch für dauerhaft im Land lebende Nichtisraeliten gelten soll. Es geht darum, inwiefern die kollektive Gottesbeziehung der jüdischen Gemeinschaft und ihrer Residenz in Palästina inmitten ethnischer Heterogenität aufrechterhalten werden kann. Die Selbstwahrnehmungen der betroffenen Gruppen, etwa ihre eigenen religiösen Traditionen und Praktiken, spielen auch in dieser priesterlichen Konstruktion keine Rolle. Auch der beschnittene gēr ist eine ordnende Kategorie und kein Phänomen der empirischen Religion. Welche Gruppen im nachexilischen Juda sind mit diesem gēr-Konzept gemeint? Sicher handelt es sich um in Palästina dauerhaft lebende Gruppen, die aus Sicht der Babylonheimkehrer nicht zur Gemeinde gehören (Nichtjuden, Landjudäer, Samaritaner). Mit ihrem Konzept des gēr schaffen die spätpriesterlichen Verfasser einen Personenbegriff, »der flexibel anwendbar ist, ohne mit einer bestimmten Gruppe oder einem klar umrissenen Typos identifiziert zu werden. Er dient in der ethnisch wie religiös unüberschaubaren Lage des nachexilischen Palästinas als systematisierende Kategorie, die nicht Gegebenheiten be­schreibt, sondern eröffnet, die nicht deskriptiv, sondern präskriptiv fungiert. Wer ein gēr war, entscheiden letztlich die Anwender der priesterlichen Gesetze« (234 f.). Insofern können diese Optionen durchaus als Angebote der Integration von im Land lebenden Nichtisraeliten in die Jhwh-Beziehung verstanden werden, aber sie stammen aus einer anderen Motivation als jener, die jüdische Religion für Volksfremde zu öffnen.
Während die Hinwendung der Nichtisraeliten zum Gott Israels in der Rut- und Jonaerzählung im Denkrahmen polytheistischer Modelle verbleibt (bei Bedarf Hinwendung zu demjenigen Gott, der sich als mächtig erweist oder im Land regiert), haben wenige spätalttestamentliche Texte »Konversionsmodelle« im Sinne einer radikalen persönlichen Veränderung hin zum Judentum ausgebildet. Aber sie finden dafür keine gemeinsame Terminologie (Esra 6,21; Neh 10,29; Jes 56,1–8; Ez 14,5–7 und Est 9,27), wobei E. den christlicherseits gern hervorgehobenen singulären Text in Jes 56 als »eschatologisch motivierte Stellungnahme einer nicht durchsetzungsfähigen Oppositionsgruppe im nachexilischen Juda« (513) wertet. Woran kann aber der spätere Begriff des Proselyten anknüpfen? Nach E. am ehesten am spätpriesterlichen gēr-Konzept, das von seiner ursprünglichen Bindung an die Lebensverhältnisse im Umkreis des Jerusalemer Tempels gelöst und auf Diasporaverhältnisse übertragen wird und so zum hellenistischen Proselyten-Konzept führen dürfte.
Ingesamt hat E. ein gründliches, gelehrtes und exegetisch auf der Höhe der Forschung argumentierendes Werk vorgelegt, das einen Großteil der relevanten Textüberlieferung eindringlich bearbeitet und zu diskutablen und überwiegend überzeugenden Ergebnissen kommt. Der Haupttitel allerdings ist leicht irreführend. Er erinnert an das rabbinische Konzept von Abraham als Vater der Proselyten. Jedoch bleibt die ganze Abrahamthematik wie auch die in der Genesis entwickelte theologische Verhältnisbestimmung der nichtisraelitischen Abrahamnachkommen zum Gott Abrahams nahezu unbeachtet. Kritisch anzumerken sind die auffällig vielen typographischen Fehler, die eine gründliche Schlusskorrektur vermissen lassen. Der Abschluss der Dissertation liegt einige Jahre zurück. Inzwischen ist die Debatte weitergegangen und durch Monographien von Markus Zehnder (2005) und Volker Haarmann (2008) bereichert worden.