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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

947-949

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grieser, Heike, u. Andreas Merkt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Volksglaube im antiken Christentum.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. 552 S. mit 19 Abb. gr.8°. Geb. EUR 79,90. ISBN 978-3-534-20471-7.

Rezensent:

Peter Gemeinhardt

Der anzuzeigende Band – ein Gruß zur Emeritierung für den katholischen Mainzer Patrologen Theofried Baumeister – geht sein Thema sachlich breit gefächert an. »Volksglaube im antiken Chris­tentum« soll »erstmals zwar nicht lückenlos …, aber doch durch exemplarische Artikel in seiner ganzen Breite und Tiefe« behandelt werden (A. Merkt, 11). Die Aufsätze sind in sechs Sachgruppen ge­gliedert:
Teil I behandelt »Volksglaube und Volksfrömmigkeit im Schnitt­feld von Theologie und Altertumswissenschaften«. Nach definitorischen Klärungen zum Begriff »Volk« (A. Merkt, 17–27) behandelt G. Schöllgen Kelsos’ Sicht des Christentums als Unterschichtenreligion (»Magier, Gaukler, Scharlatane«, 28–37). A. Hoffmann fragt nach populus und plebs bei Cyprian (38–56), P. Herz nach »›Popularreligion‹ in römischer Zeit« (57–70).
Teil II thematisiert »Religiöse Popularliteratur«. Der Bogen spannt sich von biblischen (M. Reiser, »Witz, Komik und Satire im lukanischen Doppelwerk«, 71–86) und parabiblischen Texten (H.-J. Klauck zu Wundern in den Johannesakten, 87–107) über Märtyrer­traditionen (B. Dehandschutter zu Polykarp von Smyrna, 125–137, A. Camplani zu Petrus von Alexandrien, 138–156, J. Rist zu syrischen Märtyrerakten, 157–175, H. R. Seeliger zur Datierung des Soldatenmartyriums in den Acta Maximiliani, 176–186, P. Bruns zu Mar Qardagh, dem Helden eines »christlich-iranischen Ritter- und Bekehrungsroman[s]«, 187–202) bis zu den Josuahomilien des Origenes (J. C. Metzdorf, 108–124) und zu »Pagane[n] exempla in der Paränese des Glaubens« (H. Schmitz, 203–219).
Teil III nimmt »Phänomene der Alltagsfrömmigkeit« in den Blick, so das Gemeinschaftsmahl in den Pseudoklementinen (C. Gianotto, 220–228), das Gebet im Alltag (M.-B. von Stritzky, 229–248), der Bruderkuss zum Abschluss des Gebets (S. Heid, 249–259) und das Verständnis des Segens bei Clemens von Alexandrien (U. Neymeyr, 260–264). R. Pillinger behandelt apokryphe Texte auf Textilien (265–274). J. Dresken-Weiland untersucht ein Figurenkapitell in Herakleia Pontike (»Maria mit dem Kind«, 275–290), A. Bausi eine neue äthiopische Rezension der Traditio apostolica, die dem verlorenen Archetyp näherkomme als die bekannten Textzeugen (291–321).
Teil IV richtet den Fokus auf »Synkretistische Frömmigkeitsformen«, konkret auf Magie und Mantik bei Basilius (P. Kochanek, 322–338), auf die apotropäische Funktion des Kreuzeszeichens (K. Greschat, 339–353) bzw. des Kreuzes selbst (W. Wischmeyer, 354–363), auf die Rolle der Engel und Dämonen im syrischen Liber graduum (R. Roux, 364–378) und auf astrologische Zeugnisse aus dem Umfeld der Valentinianer (C. Scholten, 379–392).
Teil V (»Tod und Bestattung, Heiligenverehrung und Wallfahrt«) behandelt die stellvertretende Taufe für die Toten in Ko­rinth (D. Zeller, 393–406), Praktiken und Riten der Bestattung (H. Grieser, 407–423), die Legitimität von Trauer (M. Durst, 424–438), die Neuetablierung von Märtyrer- und Heiligenkulten im ägyptischen Kloster Dayr an-Naqlûn in moderner Zeit (J. van der Vliet, 439–449) und eine Pilgerroute am Genfer See (F. Mali, 450–454).
Teil VI wendet sich dem »Verhältnis von Kirche und Theologie zu Volksglauben und Volksfrömmigkeit« zu, konkret dem Verhältnis von »hoher« Theologie und »schlichter« Frömmigkeit (C. Markschies, 456–471), der Beziehung von Theologie und religiöser Volkskultur (A. Merkt, 472–489) sowie Martin von Bragas De correctione rusticorum (Th. Hainthaler, 490–503) und den Konfessoren in Karthago als Anfechtung für Cyprians Amtstheologie (F. Dünzl, 504–524).
Der Band versammelt eine Fülle interessanter Miniaturen, die oft auch den Forschungsstand für das jeweilige Thema markieren. Eine Lücke sehe ich im Bereich der Hagiographie, die es weithin mit »populären« Texten zu tun hat, aus denen sich vieles für antike Frömmigkeit erschließen ließe, weiterhin (über den Beitrag von Dünzl hinaus) bei der Ekklesiologie, die vielfach auf populäre Religionspraktiken Bezug nimmt, schließlich bei der Marienverehrung – gerade hier wird doch der Unterschied von volksnahen Texten ( Dormitio-Traditionen) und theologischer Dogmatik (Definition der theotókos, 431) deutlich.
Mehrere Beiträge widmen sich konkreten Diskursen, in denen Differenzen zwischen »Volk« und anderen (gebildeten) Personen zum Ausdruck kommen: Kelsos rechnet das Christentum »zu den schlimmsten Auswüchsen der Popularreligion orientalischer Herkunft« (Schöllgen, 32). Hingegen verwendet der Althistoriker Herz den Begriff »Popularreligion« im Unterschied zur »Staatsreligion«, wobei »der entscheidende Unterschied nicht im Ritual oder dem Inhalt [begründet liegt], sondern der sozialen und politischen Stellung der handelnden Personen« (61), was z. B. unterschiedliche Träume von Sklaven und Oberschichtangehörigen illustrieren (67). Christliche »Volksreligion« war gerade in solchen Bereichen eher von Kontinuität und Transformation als von Abbruch geprägt. Andere Beiträge werfen Licht auf Tatbestände, die einer »hohen« Theologie suspekt erscheinen: Die apokryphen Apostelakten bieten nicht nur humorvolle Einlagen (vgl. Klauck, 98 f., zu den folgsamen Wanzen nach ActJoh 60 f.), sondern prägen auch die materielle Wahrnehmbarkeit von Religion: Die Marienseide aus Riggisberg schildert das Leben Marias rund um Jesu Geburt in Bildern (Pillinger, 265–269). Frappierend ist, wie bei der Bekehrung des jüdischen Joseph das Kreuz als apotropäisches Zeichen fungiert, mit dessen Hilfe böser Zauber abgewehrt, Juden bekehrt und Häretiker vertrieben werden (Greschat), ja das nach einer metrischen Inschrift Kirchenräuber drastisch strafen kann: Mit der Bitte, das Kreuz möge die Übertäter »ihre Frauen und Kinder auffressen« lassen (Lev 26,29; Dtn 28,53 u. ö.), wird »das ›unschuldige Kreuz‹ im magischen Sinne pervertiert« (Wischmeyer, 362). Leider ist bei manchen Beiträgen unklar, inwieweit hier »Volksglaube« behandelt wird und nicht eher ein liturgischer Ritus oder eine Frömmigkeitspraxis, z.B. der »gebetsabschließende Bruderkuss« (Heid) oder die Legitimität von Trauerarbeit (Durst), die durchweg an Texten von Kirchenvätern behandelt wird, die kaum unter die »Volkstheologen« zu rechnen sind. So instruktiv diese Texte an sich sind, so diffus bleibt doch ihr Beitrag zur Bearbeitung des »Volksglaubens im antiken Christentum«.
Innerhalb des Bandes werden »Volksglaube«, »Volksfrömmigkeit«, »Volkskultur«, aber auch »Popularreligion« oder »Alltagsfrömmigkeit« ohne erkennbares System verwendet. Besonders »Volksglaube« und »Volksfrömmigkeit« stehen mehrfach nebeneinander. Merkt gibt folgende Definition des Gegenstandes: »Es geht also um Frömmigkeitsformen und Glaubensinhalte, die nicht das spezifische Kennzeichen eines Individuums, einer Gruppe oder einer Schicht bilden und sich nicht durch identitätsstärkende Ex­klusivität auszeichnen, sondern unabhängig von Herkunft, Ge­schlecht, Stand und Bildung anzutreffen sind, also grundsätzlich allen zugänglich sind oder zumindest von allen akzeptiert oder toleriert werden können, eben auch von ›Eliten‹, Spezialisten oder, um mit Max Weber zu sprechen, ›Virtuosen‹« (25). Man könnte wohl generell zwischen »impliziter« und »expliziter« Theologie unterscheiden (so Markschies, 457 f., mit J. Assmann). Eine strikte Trennung von Theologie (bzw. christlicher Philosophie) und Frömmigkeit war in der Antike ungebräuchlich (462 f.). Und nicht nur »einfache« Menschen neigten zu unreflektierten religiösen Praktiken: Bibeltextfragmente als Amulette und Wundergeschichten in Apostelakten waren auch für gebildete Christen gedacht. Daher könne Theologie »Phänomene religiöser Volkskultur nur dann positiv würdigen, wenn sie von einem antielitaristischen Verständnis des Christentums ausgeht« und nicht gegen eine vermeintlich »synkretistische, halb- oder scheinchristliche Frömmigkeit« die vermeintlich »reine Verehrung des Höchsten« in Stellung bringe ( Merkt, 471). Daher solle man Augustins »defence of Christian mediocrity« (R. A. Markus, zit. 479) konstruktiv aufgreifen und das antike Christentum als »Volkskirche« verstehen (so Th. Baumeister bereits 1979).
Ob freilich anhand des vorgeschlagenen »semiotischen Mo­dells« die Praxis, sich ein Evangelienbuch auf den Kopf zu legen (vgl. 483) und es wie ein Amulett zu verwenden, aufgrund der Einbindung in die »von Gott gewollte Kommunikationsgemeinschaft« christlich rezipierbar werden kann, scheint mir fraglich. Wenn die Wirksamkeit des Sakraments ex opere operato gemäß der katholischen Tradition im Rahmen dieses Deutungsmodells gar nicht als magisch gelten kann, »weil es zu verstehen ist als ein von Gott und nicht von Dämonen eingesetztes Zeichen« (483), dann muss alles, was die (Groß-)Kirche irgendwann approbiert hat, als legitim erscheinen. Merkt will neben kirchlichen Handlungsinstanzen wie Amt oder Theologie als dritte »Kollektivkategorie« das »Volk« veranschlagen und damit der Idee des sensus fidelium ein historiographisches Fundament verschaffen (26). Aber wie lässt sich »der« Glaubenssinn erheben, ohne doch wieder der Deutung durch Amtsträger zu unterliegen? Liegt nicht die Pointe von »Volksfrömmigkeit« gerade darin, sich solchen normativen Ansprüchen im­mer wieder zu entziehen? Daher kann das vorgelegte Konzept von »Volksglaube« und/oder »Volksfrömmigkeit« noch nicht vollständig überzeugen. Jedoch schlägt der Band mit vielen hochinteressanten Einzelstudien eine Schneise in das spannende Feld antiker christlicher Volksfrömmigkeit und legt dabei auch metho­dische Desiderate für die künftige Erforschung der antiken Re­ligionsgeschichte offen. Sich solchen Fragestellungen zu widmen, dürfte ein lohnendes Unterfangen für die Patristik und ihre Nachbardisziplinen sein.