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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

945-947

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano, Jödicke, Ansgar, u. Guido Vergauwen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Öffentlichkeit. Probleme und Perspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 269 S. m. Abb. gr.8° = Religionsforum, 4. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-020524-6.

Rezensent:

Gert Pickel

Der auf Beiträgen des 3. Religionsforums der Universität Fribourg vom November 2007 beruhende Sammelband von Mariano Delgado, Ansgar Jödicke und Guido Vergauwen beschäftigt sich mit einem Thema, welches in der Religionssoziologie und den Religions­wissenschaften während der letzten Jahre auf steigende Resonanz stößt: dem Beziehungsverhältnis zwischen Religion und Öf­fentlichkeit. Ausgelöst durch die von Jose Casanova angestoßene Debatte um »public religions« wird das bislang oft als allgemeingültig angesehene Diktum eines Rückzuges der Religion ins Private, welches seitens der Säkularisierungstheorie wie auch der Indi­-vidualisierungsthese des Religiösen als Folge der Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne angenommen wird, infrage gestellt. Im Gegensatz dazu wird eine bleibende, wenn nicht gestiegene Bedeutung von Religion in der öffentlichen Debatte moderner Gesellschaften betont. Die meisten Beiträge des vorliegenden Sammelbandes folgen dieser Argumentationslinie.
Gleich im ersten Beitrag des Bandes wendet sich Karl Gabriel explizit gegen die universelle Wirksamkeit der säkularisierungstheoretischen Annahme eines Spannungsverhältnisses zwischen Religion und Moderne. Gerade in den Prozessen der Globalisierung, mit der aus ihnen resultierenden steigenden Nachfrage nach Kontingenzbewältigungsangeboten, sieht er den Schlüssel zu einer Rückkehr des Religiösen. So fördern die sich in diesen Rahmenbedingungen ausweitenden Unsicherheiten den individuellen Be­darf an Religion. Um diese Nachfrage zu erfüllen, wird es aus Gab­riels Sicht allerdings notwendig sein, dass eine Modernisierung der Religionen stattfindet (26). An den Punkt der religiösen Nachfrage schließt auch Remi Brague an, der die Erweiterung der Europä­ischen Union gleichzeitig als Möglichkeit und Gefahr für den Menschen ansieht und die Bewältigung der entstehenden Probleme in dem Rückgriff auf die gemeinsamen Sinnvorkommen Europas sieht.
Pierre Gisels Beitrag zur »Religion und zeitgenössischen Moderne« stellt die Bedeutung der Verzahnung von Religiösem und Sozialem in den Vordergrund. Aus seiner Sicht geht es um die Untersuchung der religiösen Traditionen in ihrer Verschiedenartigkeit (57), eine nicht ganz neue Forderung, die schon Joachim Wach stellte. In diese Richtung zielt auch Paul M. Zulehner in seiner Suche nach »Gott nach dem Kommunismus«. Er löst das Problem empirisch-typologisch und deckt religiöse, atheisierende und dazwischen polarisierende Kulturen auf (61). Die Möglichkeiten für die zukünftige Entwicklung in Osteuropa sieht er, mit Ausnahme der neuen Bundesländer Deutschlands, wo es einen soziokulturell selbstverständlichen Atheismus gebe (69), eher positiv. Beiden Autoren geht es um die hohe Relevanz der Verankerung von Religion in der Gesellschaft, die sie generell als gegeben, aber auch an den sozialen Wandel gebunden ansehen.
Da ist es nur konsequent, dass sowohl Leo Karrer als auch Kurt Koch sich im zweiten Abschnitt des Bandes einig sind, dass Europa ein öffentliches Christentum benötigt. Es hat seinen Platz als Vermittler zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und spendet so den Gemeinschaftsmitgliedern eines neuen Europas Hoffnung. Die zentrale Rolle der Staat-Kirche-Beziehungen für die öffentliche Bedeutung von Religion und Kirche wird daran deutlich, dass einzelne Kirchen – im Aufsatz von Mariano Delgado die katholische Kirche – sich mit den Bedingungen religiöser Pluralität im öffentlichen Raum erst noch auseinandersetzen müssen. Dies ist aber zwingend notwendig, um in der Moderne überleben zu können. Das dabei auftretende Spannungsverhältnis zwischen privatisierter Religiosität und einer öffentlichen Religion ist kein Sondermerkmal des Christentums, sondern lässt sich auch für den Islam identifizieren. So darf die Außensicht auf den Islam mit seinem Verständnis als soziale Ordnung (165) nicht den Blick auf die pluralen Facetten dort gelebter Religiosität verdecken. Reinhard Schulze und Emilio Platti sind sich darin einige, dass es aus der Fremdperspektive nicht immer deutlich ist, welchen Islam man zu bestimmten Zeiten sieht (164.181). Unter den Rahmenbedingungen religiöser Pluralität gewinnt öffentliche Aufmerksamkeit an Bedeutung, häufig gerade dann, wenn das Primat der Religionsfreiheit geschützt werden muss. Karenina Kollmar-Paulenz zeigt auf, dass dies den Drang zur Inszenierung religiöser Gruppen befördert (214). Aber auch Jean-François Mayer, Rotraud Wielandt und Ansgar Jödicke kommen aus unterschiedlichen Perspektiven auf Wissenschaft, Schule und Internationale Beziehungen zu dem Ergebnis, dass Religion in modernen Zivilgesellschaften verstärkt über die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung ihren Einfluss begründen kann, weniger durch direkte (politische) Einflussnahme wie in früheren Zeiten.
In fast allen Beiträgen des Bandes wird der hohe Bedeutungsgehalt erkennbar, der in der Debatte um Religion und Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft zugestanden wird. Sie stellt den Platz dar, wo sich Kirchen und Religionen präsentieren müssen. Gelingt ihnen dies nicht adäquat, dann sind sie unweigerlich Prozessen des sozialen Bedeutungsverlustes ausgesetzt. Kritisch anzumerken ist, dass eine eher westliche und vom Bild der Demokratie geprägte Sichtweise dominiert, steht einem doch nur dort eine Zivilgesellschaft zur Verfügung. Ebenfalls zu hinterfragen ist das durchgehende anthropologische Verständnis von Religiosität. So hat man den Eindruck, der Bestand individualisierter Religiosität steht aufgrund des permanenten Bedürfnisses nach Kontingenzbewältigung außer Frage und es gehe eigentlich nur noch darum, ob sie im Privaten verbleibe oder in die Öffentlichkeit zurückkehre. Die An­nahmen (und empirischen Ergebnisse) der Säkularisierungstheorie mit ihren Hinweisen auf steigende religiöse Indifferenz werden gemeinhin als abgehandelt betrachtet. Ob dieser Schluss gerechtfertigt ist, bleibt genauso fraglich wie die Berechtigung eines Schlusses von der öffentlichen Relevanz religiöser Debatten auf die Relevanz individueller Religiosität.
Generell unterliegt der Band dem Manko vieler Sammelbände, bleibt doch der Leser hinsichtlich einer zusammenfassenden Deutung aufgrund eines fehlenden Schlusskapitels letztendlich auf sich selbst verwiesen. Da die Beiträge eine große Spannbreite erreichen, wird so leider die Möglichkeit einer konzeptionellen Aussage aus der Hand gegeben. Nichtsdestoweniger handelt es sich um eine interessante Zusammenstellung der Auseinandersetzung mit dem theologisch wie sozialwissenschaftlich bedeutsamen Thema Religion und Öffentlichkeit, die viele Facetten anspricht und den Vorzug einer breiten Interdisziplinarität genießt.