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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

943-945

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Böttigheimer, Christoph, u. Florian Bruckmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionsfreiheit – Gastfreundschaft – Toleranz. Der Beitrag der Religionen zum Europäischen Einigungsprozess.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2009. 267 S. m. Tab. gr.8°. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-7917-2214-6.

Rezensent:

Gerdi Nützel

Aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen behandeln die vorwiegend aus katholischem Milieu stammenden Autorinnen und Autoren die Frage, welche Rolle die Religionen in einem geeinten Europa der Gegenwart und Zukunft spielen können.
In einem ersten Kapitel, das »Außenperspektive« überschrieben ist, gibt zunächst Michael Ebertz auf der Basis der Daten des Bertelsmann Religionsmonitor 2008 eine Beschreibung der religiösen Landschaft Europas. Er differenziert dabei zwischen einer Säkularisierung im engeren Sinne, einer Entkirchlichung und einer Entchristlichung, die er dann noch einmal einzeln jeweils auf die Frage der Sozialstruktur, der Kultur und der Einzelperson bezieht. In seinem Resümee weist er auf die Bedeutung länderspezifischer historischer Merkmale und Umstände hin. So führe die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen auch zu einem veränderten Platz der Religionen in den jeweiligen Gesellschaften. Die für die europäische Entwicklung charakteristische Verdrängung ma­gischer, mythischer und mystischer Formen von Religion, die antiklerikale Ausklärungsbewegung sowie die sozialistische Arbeiterbewegung haben zu einer Distanz großer Bevölkerungsteile gegenüber den Kirchen geführt. Allerdings habe schon die sich an die traditionelle Kultur anlehnende oder diese schroff ablehnende Haltung bei der Christianisierung eines Volkes bis in die Gegenwart entscheidende Auswirkungen. Ziel ist aus seiner Perspektive die friedliche Koexistenz verschiedener religiöser und nichtreligiöser Identitäten auf der Basis des Respekts für die Integrität und Freiheit aller Menschen.
In dem zweiten Beitrag des Kapitels »Außenperspektive« be­schäftigt sich Norman Weiss mit dem Universalitätsanspruch der Menschenrechte in einer fragmentierten Welt. Er beginnt seinen Durchgang durch die geistesgeschichtlichen Entwicklungsschritte hin zu den inzwischen formulierten Menschenrechtserklärungen mit dem Hinweis auf die im Judentum hervorgehobene Gott­ebenbildlichkeit des Menschen im 10. Jh. v. Chr. und weist auf die Problematik der Durchsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte aufgrund des Wohlstandsgefälles zwischen dem Westen und dem Rest der Welt hin. Der Hinweis auf kulturbedingte Spezifika von Menschenrechten dient seiner Wahrnehmung nach oft zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen. Insgesamt hält er eine interkulturelle Debatte über den Universalitätsanspruch der Menschenrechte für notwendig.
In einem dritten Beitrag dieses Kapitels behandelt Felix Hammer den Beitrag zur Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit im säkularen Staat vor allem unter Bezug auf das deutsche Grundgesetz. Er unterscheidet dabei zwischen dem Verbot einer Diskriminierung aus Glaubensgründen und der zulässigen staatlichen Differenzierung bei der Förderung von Glaubens- und Religionsgemeinschaften entsprechend deren unterschiedlichem Beitrag zu kulturellen und sozialen gesellschaftlichen Aufgaben.
Das zweite große Kapitel mit der Überschrift »Innenperspek­tive« beginnt mit einem Beitrag von Florian Bruckmann zu den Konzepten der Gastfreundschaft bei Johannes Chrysostomos, Be­nedikt von Nursia und Jacques Derrida. Dabei zeigt sich, dass Chrysostomos das umfassendste und offenste Konzept entwickelte. Bei ihm entspricht Gastfreundschaft als solche dem christlichen Selbstverständnis. Dies belegt er mit biblischen Beispielen aus dem Alten und Neuen Testament. Jeder soll Gastfreundschaft üben und jeder soll sie selbst erfahren. Die Begründung liegt für ihn sowohl in der Lehre von der Schöpfung als auch in seinem Verständnis der Eucharistie: Wir empfangen in beidem Gaben, die wir weitergeben. Gastfreundschaft ist für ihn Ausdruck der christlichen Nächstenliebe, in der wir Christus begegnen. Dies sichert sowohl das Überleben des Fremden als auch den himmlischen Lohn für den Gastgeber. Auch bei Benedikt von Nursia ist Gastfreundschaft ein hohes Gut. Um jedoch die klösterliche Ordnung nicht im Ganzen durch die Begegnung mit Gästen zu stören, soll der Abt getrennt mit dem Gast speisen. Bei Jacques Derrida schließlich wird unter Verweis auf Kant der Wert der Wahrheit dem der Gastfreundschaft im Konfliktfall übergeordnet. Die existenzielle Störung durch den Gast wird in dem Satz »Der Gastgeber wird zur Geisel des Gastes« ausgedrückt, wobei daran festgehalten wird, dass im Gast der Messias als Gott und als Hilfsbedürftiger gleichzeitig, ununterscheidbar und mit potentiell jederzeit umkehrbaren Rollen zwischen Gastgeber und Gast empfangen wird.
Auf den Skandal der Kirchenspaltung als ernstes Hindernis für einen überzeugenden Beitrag der Kirchen zur Einheit Europas weist Christoph Böttigheimer hin und verbindet dies mit einer Anfrage an katholische, evangelische und orthodoxe Positionen. Entscheidende Impulse für ein wirksames Engagement der Kirchen sieht er in der Charta Oecumenica und in den Diskussionen bei den Europäischen Ökumenischen Versammlungen – wobei etwas verwundert, dass er auf S. 148 durchaus zukunftsorientiert von vier dieser Versammlungen spricht, während die offizielle Zählung sich bisher auf drei solcher Versammlungen in Basel, Graz und Sibiu beschränkt.
Zwei weitere Beiträge widmen sich der Frage der Impulse aus muslimischer bzw. christlich-muslimischer Sicht. Als einziger muslimischer Autor wendet sich Hasan Karaca dabei vor allem dem Verhältnis Islam und Aufklärung zu, während Anja Middelbeck insbesondere auch die Anstöße vonseiten des katholischen Lehramtes und des Korans benennt und auf das begonnene Gespräch zum Thema »Liebe« zwischen Papst und den 138 Muslimen hinweist.
Als »Erfahrungsbericht« ist der Beitrag des CSU-Politikers Bernd Posselt charakterisiert, in dem dieser aus historischer und aktuel-ler Perspektive den Einfluss der Religionen auf Europa benennt. Anhand von Beispielen aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Regionen zeigt er auf, dass es oft nicht ursächlich religiöse Gründe waren, die zu Konflikten führten, sondern Machtstrukturen.
Insgesamt gibt der Band interessante Einblicke in verschiedene Aspekte der Rolle der Kirchen im europäischen Einigungsprozess. Dabei beschäftigen die meist aus dem katholischen Bereich stammenden Autoren und Autorinnen sich insbesondere auch mit Im­pulsen aus dem katholischen Bereich. Im Anschluss an die Artikel finden sich in der Regel einen Vielzahl hilfreicher Literaturhinweise.
Die sehr selbstständig nebeneinander stehenden Beiträge ma­chen den Bezug zwischen den drei Stichworten des Titels »Religionsfreiheit, Gastfreundschaft, Toleranz« nicht explizit deutlich, geben aber für die weitere Diskussion hilfreiche Hinweise zur Rolle von Religion und Religionen im sich vereinenden Europa. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Zeitdiagnose mit den Stichworten Gastfreundschaft und Toleranz nicht um den Aspekt der Gestaltung einer Konvivenz von Verschiedenen ergänzt werden müsste.