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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

941-943

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bizeul, Yves

Titel/Untertitel:

Glaube und Politik.

Verlag:

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009. 315 S. gr.8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-531-16864-7.

Rezensent:

Christoph Seibert

Yves Bizeul hat den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften der Universität Rostock inne. Sein Buch beschäftigt sich daher auch aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive mit Fragen der Relevanz, die religiöse sowie politische Glaubensformen für den Bereich des Politischen haben. Diese durchaus komplexe Aufgabenstellung geht mit einer programmatischen These einher, die in einer doppelten Frontstellung profiliert wird:
Zum einen wendet sich B. gegen die diskursethische Idee, die Legitimität politischer Überzeugungen ließe sich allein durch den »Zwang des besseren Arguments« begründen; zum anderen weist er zugleich auch das gegenläufige Vorhaben zurück, politische Überzeugungen im Rekurs auf eine Logik zweckrational-ökonomischer Rationalität begründen zu wollen. Ohne die Wahrheitsmomente beider Theorien zu übersehen, sind sie B. zufolge mit demselben Defizit behaftet: Beide seien nämlich nicht hinreichend in der Lage, die politische Bedeutung von verhaltensorientierenden Faktoren anzuerkennen, die sich nicht auf den gemeinsamen Nenner einer über sich selbst aufgeklärten argumentativen Praxis bringen lassen, sondern in einer anderen Weise auf den Bereich des Politischen Einfluss nehmen (11.269 f.). Der Glaube wird im Folgenden als ein derartiger Faktor angesehen. Dementsprechend lautet die das Buch durchziehende Programmthese, dass sich der politische Mensch weder rein als animal rationale noch nach Maßgabe des Idealtypus eines homo oecomonicus verhalte, sondern in »erster Linie [!] ein animal credens, ein gläubiges Lebewesen« (13) sei. Was aber, so fragt der Leser spätestens an dieser Stelle, ist darunter näher zu verstehen? Einige Andeutungen werden bereits in der Einleitung des Buches gemacht.
Der Glaube, so die allgemein-funktionale Bestimmung des Begriffs, dient nach B. in erster Linie zur Reduktion von Komplexitäten, die unser gesellschaftlich institutionalisiertes Leben in allen seinen Bereichen prägen. Eine solche komplexitätsreduzierende Leistung sei notwendig, um angesichts der faktisch vorliegenden Unübersichtlichkeit und Begrenzungen sozialer Verhältnisse überhaupt zielsicher handeln zu können. Diese Bestimmung des Glaubensbegriffs ist für sämtliche Ausführungen des Buches konstitutiv. Dabei ist es entscheidend zu sehen, dass B. im Anschluss an Castoriadis die Prozesse sozialer Institutionalisierung vor dem Hintergrund eines Clusters von kommunizierten imaginären Bedeutungen begreift, die im Modus eines gesellschaftlichen Glaubens und gerade nicht allein auf dem Weg rationaler Diskurse zur kollektiven Anerkennung gelangen. So verstanden ist der Glaube als Für-wahr-Halten solcher Bedeutungen sowie als Vertrauen gegenüber den in ihrem Sinn geregelten Institutionen des sozialen Lebens eine elementare Grundvoraussetzung der Gesellschaft. Ohne ihn könne keine Gesellschaft effektiv bestehen (22).
Diese allgemeine Charakteristik des Glaubens wird in einem weiteren Schritt sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht näher bestimmt, wobei die Funktion des religiösen Glaubens vornehmlich darin gesehen wird, dass er den Umgang mit »dem Sakralen und/oder mit einer Transzendenz« (29) regele. Allerdings ist eine scharfe Grenzziehung zwischen beiden Glaubensformen nach B. kaum zu leisten. Ihre Grenzen seien vielmehr fließend. Vor diesem Hintergrund ist es daher auch folgerichtig, wenn die an­schließende Untersuchung darauf abhebt, die komplexen Wechselbeziehungen zwischen beiden Glaubensformen nachzuzeichnen. Dabei wird folgender Weg eingeschlagen:
Nachdem zunächst die historische Entwicklung der Entkoppelung von Religion und Politik in Umrissen skizziert wird, weist B. auf, dass diese Entkoppelung niemals eine totale gewesen ist. Gegenwärtig zeige sich das etwa in den vielgestaltigen Beziehungen, in denen Religion und Staat weltweit aufeinander bezogen sind. Diese Überlegungen werden im zweiten Kapitel fortgesetzt, indem nun die »indirekten Auswirkungen« (55) religiöser Einstellungen auf die Formation konkreter Handlungsformen nachvollzogen werden. Dabei geht es um das Verhältnis von religiösen Einstellungen auf wirtschaftliches und politisches Handeln. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass Religion zwar nicht die einzige Determinante, allerdings ein wichtiger Faktor in der Herausbildungen gegenwärtiger wirtschaftlicher und politischer Handlungssysteme bilde. Wenn das der Fall ist, stellt sich freilich die Frage, in welchem Sinn religiöse Einstellungen gewaltfördernd und in welchem Sinn sie friedensstiftend wirken können. Dieser Frage widmet sich B. im dritten Kapitel, bevor im vierten Kapitel das Ineinander von religiösem und politischem Glauben anhand der Phänomene der »Politischen Theologie« und der »Zivilreligion« analysiert wird. Nachdem die bisherigen Überlegungen vielfältige Überschneidungspunkte zwischen Religion und Politik darlegt haben, ändert sich im fünften Kapitel die Perspektive. Denn nunmehr richtet sich die Fragestellung auf den Befund, dass sich Religion – unbeschadet aller Berührungspunkte mit der Politik – im Zuge der Modernisierung zugleich auch aus dem öffentlichen Raum entfernt habe. Die dadurch entstandene Leerstelle müsse indessen gefüllt werden. Und eine besonders wirkmächtige Weise, um dieses Defizit auszugleichen, bilde der Glaube an politische Ideologien, zu denen schließlich auch die »politischen Religionen« (Voegelin) gerechnet werden. In den beiden nachfolgenden Kapiteln setzt sich B. mit den Elementen auseinander, deren sich politische Ideologien regelmäßig bedienen, so etwa der Utopie und des politischen Mythos. Dabei wird versucht, möglichst genau die Ge­meinsamkeiten und Unterschiede dieser einzelnen Elemente zu klären und ihre im engeren Sinn religiöse von ihrer politischen Ausgestaltung zu differenzieren. Dieser Gedankengang wird in den letzten drei Kapiteln dann so fortgesetzt, dass nun die konkreten Verkörperungs- und Vermittlungsgestalten des politischen Glaubens thematisiert werden. Es handelt sich dabei vor allem um politische Rituale, Symbole sowie um politische Propaganda. Getragen werden sie von dem, was B. in terminologischer Abwandlung der Theorie des kollektiven Gedächtnisses den »geschichtlichen Narrationenfundus« (250) nennt. Es entspricht schließlich der Ausgangsbeobachtung einer komplexen Wechselwirkung zwischen dem religiösen und politischen Glauben, wenn B. in seinen Schluss­überlegungen eine freilich nicht ganz neue, aber immer noch diskussionswürdige Schlussthese formuliert. Sie lautet, dass der gegenwärtige Glaube an die Demokratie nicht nur als Folge der Aufklärung, sondern gleichsam als »Resultat eines einzigartigen Monotheismus« (270) zu begreifen sei. Denn dieser politische Glaube lebe letztlich von der Fähigkeit zur permanenten Selbstkritik, die ihrerseits auf die Nichtabsolutheit der eigenen Position mit den sie verpflichtenden Wahrheitsüberzeugungen verweise. Und dies seien Merkmale, die zumindest für den jüdisch-christlichen Monotheismus mit seiner Vorstellung einer menschlichen Wahrheitssuche »ohne Gewähr« (271) konstitutiv seien.
Insgesamt hat B. ein sehr anregendes und mit reichlich empi­-rischem Anschauungsmaterial versehenes Buch über den politischen Glauben in seinem Verhältnis zum religiösen Glauben ge­schrieben. Damit weist er auf eine Leerstelle derjenigen Modelle hin, die politische Praxis vornehmlich unter deliberativen Ge­sichtspunkten zu begreifen suchen. Bei der Durchführung seiner Untersuchung fällt auf, dass sie in großem Maß bisweilen sehr heterogene Referenzautoren heranzieht. In dieser Informiertheit liegt gewiss eine große Stärke des Buches. In bestimmten Hinsichten kann diese Stärke allerdings auch als konzeptionelle Schwäche gedeutet werden. Denn neben dem Befund, dass manche nennenswerten Positionen nur sehr oberflächlich mit Bezug auf allgemeine Schlagwörter einbezogen werden, treten vor allem B.s konzeptionelle Bemühungen bei der präzisen Klärung seiner Leitbegriffe und in der Entwicklung seiner Argumentation nicht immer prägnant hervor. Mit anderen Worten: Das ständige Zitat anderer Positionen geht zwar nicht in den historisch, wohl aber in den mehr systematisch ausgerichteten Passagen manches Mal auf Kosten der begrifflichen Schärfe des eigenen Arguments. Meinem Eindruck zufolge sind jedenfalls die Textpassagen am interessantesten, in denen das eigene Argument und die eigene Darstellungslogik B.s im Vordergrund stehen. Diese kritische Randbemerkung soll der Wichtigkeit der von B. behandelten Thematik freilich keinen Abbruch tun. Seine Untersuchung liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der politischen Kultur und bietet darüber hinaus vielfältige Anknüpfungspunkte für religionsphilosophische und theologische Fragestellungen.