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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

124–126

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Chiarini, Paolo, u. Hans Dieter Zimmermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion. Bd. 3

Verlag:

Berlin: Guardinistiftung 1994. 198 S. gr.8° = Forum Guardini. DM 24,­. ISBN 3-9803395-3-X.

Rezensent:

K. N. Micskey

Diese Sammlung in hohem Maße interessanter Texte, nämlich der Vorträge eines im September 1993 am Comersee gehaltenen wissenschaftlichen Colloquiums unter demselben Titel wie das hier besprochene Buch, enthält nach dem Vorwort der beiden Hgg. elf selbständige Arbeiten. Diese sind: "Jüdische Schrift-auslegung" vom Potsdamer Judaisten und Religionswissenschaftler Karl E. Grözinger; "Kain und Abel. Ein produktiver Mythos" vom Trierer r.-k. Theologen Franz W. Niehl; "Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn: Vetus Testamentum et Vetus Testamentum in Novo receptum" vom Göttinger evangelischen Theologen Hans Hübner; "Hölderlin: Schrift und Exegese" vom Konstanzer Literaturwissenschaftler Ulrich Gaier; "Franz Kafkas ’Vor dem Gesetz’. Exegese der Legende" vom Mitherausgeber, dem Berliner Literaturwissenschaftler H. D. Zimmermann; "Rabbenu Joyce ­ An-näherung an Finnegans Wake" vom Frankfurter Historiker Klaus Reichert; "Wilhelm Dilthey und die literarische Hermeneutik" vom Mitherausgeber P. Chiarini, Germanist in Rom; "Die Überprüfbarkeit der Interpretation. Hermeneutische Probleme mit Rücksicht auf Goethes Torquato Tasso" vom Karlsruher Literaturwissenschaftler Uwe Japp; "Derrida versus Gadamer. Philosophische Hermeneutik und Dekonstruktion" vom Kopenhagener Literaturwissenschaftler Jörgen Egebak; "Freiheit zur Treue. Vom Überleben eines alten Dilemmas und dem Bund des Übersetzers mit dem Unübersetzbaren" von der Hamburger Literaturwissenschaftlerin Annette Kopetzki und "Probleme der Übersetzung polnischer Avantgarde-Dramen ins Deutsche" vom Warschauer Germanisten Karol Sauerland. Die Sammlung schließt mit dem Gedicht Giuseppe Ungarettis "Per sempre" mit den Übersetzungen Hilde Domins ("Auf immer"), Ingeborg Bachmanns ("Für immer") und Paul Celans ("Für alle Zeit").

Wie ersichtlich, beginnt die Sammlung mit Exegetica (Grözinger bis Reichert), um dann Fragen der Hermeneutik im Allgemeinen zu erörtern (Chiarini bis Egebak). Kopetzki und Sauerland erörtern verschiedene Probleme des Übersetzens.

Jeder Aufsatz ist von ausgezeichneter Qualität. Wir besprechen hier jedoch nur jene Arbeiten, die den historisch-kritischen Theologen, ob Exeget, Historiker oder thematischer Theologe, näher angehen. Unter diesem Blickwinkel steht die Arbeit Hübners im Zentrum unseres Interesses.

Hübner geht von der theologisch zentral bedeutsamen Tatsache aus, daß die ntl. Texte die Bibel Israels ­ das "Alte Testament" der Christenheit ­ nicht aus deren historischen und religiösen Voraussetzungen her verstehen (können), sondern "von demjenigen Wirklichkeitsverständnis aus, das für (ihr) ganzes Existenzverständnis bestimmend ist" (58). Für sie "ist Jesus Christus die (sie) bestimmende Wirklichkeit schlechthin. (Ihr) Sein ist ein ’Sein in Christus’... als der theologische Ort (ihrer) Existenz" (58). Zwar spricht Hübner hier konkret von Paulus, aber das von ihm Formulierte gilt von den ntl. Texten im Allgemeinen, soweit sie eine religiöse Ganzheit bilden, und eben auf diese Weise bilden sie eine religiöse Ganzheit.

Die Nichtbeachtung dieser Differenz ­ und sie wurde im Laufe der Geschichte der Christenheit des öfteren nicht beachtet ­ führt zu schweren und unnötigen religiösen Belastungen und theoretischen Verwirrungen. Aus ihrer ­ theologisch unverzichtbaren ­ Beachtung folgt: "Der christliche Exeget gesteht seinen jüdischen Kollegen zu, daß die innerjüdische Deutung der Schrift ihr gutes hermeneutisches Recht hat. Die Schrift Israels wird somit nicht zum exklusiven Eigentum der christlichen Kirche gemacht" (62).

Wie phantasiereich, vielfältig und schöpferisch jüdische Schriftauslegung immer wieder ist, zeigt uns der Vortrag Grözingers. Die christliche Exegese kann sehr viel gewinnen, wenn sie sich auf die Möglichkeiten der jüdischen Bibelauslegung hin öffnet. Thematisch am nächsten zu Grözingers Ausführungen steht Reicherts Arbeit über Joyce. Es ist nicht zufällig, daß Reichert dem Roman "Finnegans Wake" auch mit Hilfe tiefenpsychologischer Termini ­ z. B. "Archetyp" und "Freudscher Familienroman" ­ charakterisiert (118). Denn Finnegans Wake­ wie m. E. auch Ulysses ­ wirkt wie eine Art Entbergungsversuch, ein verdeckter Wink auf die verborgenen Tiefenverbindungen zwischen jüdischer und christlicher Glaubensgeschichte, zwischen jüdischer und christlicher Glaubensgemeinschaft in ihren Bindungen an die gemeinsame Heilige Schrift.

Gehört zu den geheimen Voraussetzungen dieser Tiefenverbindungen die Annahme, die dann in der Textbeschaffenheit von Finnegans Wake wirksam wird, daß die Wörter des Textes (der Heiligen Schrift) ausnahmslos alle falsch sind, weil sie den (wahren) Gottesnamen verbergen? Dieser Name könnte erst durch vielfältige Operationen aus ihnen wieder zum Licht gebracht werden. Anders gesprochen: Das Verfügen über den Text führt in die Täuschung ­ weil sich der Text anscheinend zur Verfügung stellt ­ auch über Gott und sein Heil zu verfügen. Doch: dieses Heil ist unverfügbar. Wohl aber ist der heilige Text als "Oberflächentext" der Ort, durch den hindurch und an dem das "eschatologische Ereignis" des Glaubens (= der wahre Name Gottes) je und je hervorbricht.

Niehls Dialog mit dem "produktiven Mythos" von Kain und Abel ­ einem "verschatteten", "negativen" Dioskursen-Mythos ­ weist mit Recht auf den archetypischen Charakter dieser Erzählung hin (43). Niehl sieht auch die Verwandtschaft dieses Mythos mit einem anderen archetypischen dunklen Dioskuren-Mythos, dem von Romulus und Remus und "der Gründung der Stadt Rom, bei der ebenfalls der jüngere Bruder erschlagen wird!" (47). Hier hätte ich mir eine etwas breitere Auseinandersetzung mit der religions- und kulturhistorischen Bedeutsamkeit archetypischer Dioskuren-Mythen gewünscht. (Ein Korrigendum auf S. 51: statt "dictum probantium" sollte "dictum probans" stehen.)

Die beiden letzten für die Theologie m. E. unmittelbar relevanten Aufsätze sind die von U. Gaier (Hölderlin) und H. D. Zimmermann (Kafka). Gaiers Aufsatz ist sowohl der längste als auch der hermeneutisch differenzierteste. Dieser Umstand hängt eindeutig mit der Komplexität des Hölderlinschen Schaffens und mit dessen Beziehungen auch zu den hermeneutisch-okkulten Traditionen des Abendlandes zusammen (vgl. z. B. den Hinweis auf Agrippa von Nettesheim, 96, Anm. 37).

Zimmermanns Kafka-Arbeit ist ein kunstvoller, überraschend komprimierter Versuch, den Strukturen des Denkens dieses genialen, indirekten jüdischen Exegeten des biblischen Wortes gerecht zu werden.

Zimmermann meint: "Das könnte in der Tat das Ziel der Legende" (des Mannes vor dem Gesetz) "und der anschließenden Exegese der Legende sein: so wie der Mann das Gesetz nicht erreicht, so erreicht der Exeget nicht die Schrift. Beide (Gesetz und Schrift) sind unerreichbar dem menschlichen Zugang entrückt" (100).

Zimmermanns Kafka-Auslegung zeigt ebenso wie die Joyce-Auslegung Reicherts den Grundwiderspruch der gesamten jü-disch-christlichen theologischen Arbeit: Der zur Verfügung stehende Text verhüllt täuschend ­ weil verfügbar ­ die Unverfügbarkeit des eschatologischen Heils. Zugleich ist dieser verfügbare Text der Ort des Ereignisses des unverfügbaren Heils. Dieser Grundwiderspruch ist unauflösbar und ein Widerspruch des Lebens zum Leben.

Chiarinis Dilthey-Vortrag bringt in hervorragender Deutlichkeit dessen entscheidende Rolle in der Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, d. h. des gesamten Kosmos der Kulturwissenschaften zum Ausdruck. Theologisch hochbedeutsam ist die Formulierung, daß "die eine Wahrheit" stets in perspektivischer Erkenntnis erscheint, und daß die einende Zusammengehörigkeit von Religion und Kunst von der Hermeneutik immer wieder neu zu bedenken ist (vgl. 125).

Auch die übrigen Aufsätze verdienen Dank und Anerkennung. Ihre Inhalte berühren jedoch nicht so unmittelbar die Fragestellungen der historisch-kritischen, hermeneutischen Theologie, wie die von mir besprochenen.

In allem: unser Band ist ein großer Gewinn für die allgemeine und besonders für die theologische Hermeneutik.