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Ausgabe:

September/2010

Spalte:

934-937

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hrsg. v. G. Ueding. Red. G. Kalivoda, F.-H. Robling, Th. Zinsmaier, S. Fröhlich.

Titel/Untertitel:

Historisches Wörterbuch der Rhetorik.

Verlag:

Bd.8: Rhet–St. Tübingen: Niemeyer (de Gruyter Imprint) 2007. VI S., 1466 Sp. m. Abb. 4°. Lw. EUR 145,00. ISBN 978-3-484-68108-8. Bd.9: St–Z. Tübingen: Niemeyer (de Gruyter Imprint) 2009. V S., 1638 Sp. m. Abb. 4°. Lw. EUR 149,95. ISBN 978-3-484-68109-5.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Wiederum sind zwei Bände des Historischen Wörterbuches der Rhetorik zum Abschluss gekommen und stehen allen zur Verfügung, die sich in irgendeiner Hinsicht mit den rhetorisch relevanten Schlüsselbegriffen und den kommunikativen Grundfragen der vor allem europäischen Geistes-, Bildungs- und Kulturgeschichte befassen wollen. Der Band 9 könnte – wie in vielen anderen Wörterbüchern – mit dem Lemma »Zynismus« den Abschluss des in der Theologischen Literaturzeitung bereits ausführlich kommentierten Großprojekts darstellen. (Zur Systematik und zu den Prinzipien des Ge­samtwerks vgl. die Rezensionen der Bände 1–5 in der ThLZ 127 [2002], 104–107, sowie der Bände 6 und 7 in ThLZ 133 [2008], 703–706.) Die üblichen Begleitumstände eines sich – bis zum Zeitpunkt des vorgesehenen Abschlusses 2011 – über fast 20 Jahr erstreckenden Editionsvorhabens brachten es jedoch mit sich, dass ein Ergänzungsband (10) konzipiert wurde, der u. a. diejenigen Lemmata enthalten wird, die – ohne Rücksicht auf Alphabet und Chronologie – erst nach Ab­schluss der entsprechenden Bände an Bedeutung gewonnen haben. Ein Registerband wird »wegen der vielfach nicht kodifizierten oder mehrsprachlichen Begrifflichkeit das Lexikon für den Benutzer erst umfänglich und detailliert erschließen« (Bd. 9, V).
Die strukturierende Unterscheidung dreier Artikeltypen hat sich auch in den nun vorliegenden Bänden bestens bewährt: Kategorie 1: kurze, präzise Definitionsartikel (z. B. »Systole«), Kategorie 2: umfangreichere Sachartikel u. a. mit Hinweisen auf begriffsgeschichtliche Entwicklungen (z. B. »Text«), Kategorie 3: enzyklopädische Forschungsartikel, die sich zentralen Theorie- und Epochenproblemen der Rhetorik widmen und interdisziplinär wie multidisziplinär von hohem Rang sind (z. B. »Stillehre, Stilistik«).
Entsprechend der rhetorischen Tradition von Theologie und Religionswissenschaft enthalten die beiden Bände kaum ein Lemma, das in der Entwicklung der einzelnen theologischen Diszi­plinen nicht irgendwann eine Rolle gespielt hätte. Zwar werden den rhetorisch Kundigen unter den Theologinnen und Theologen jene Brüche, Lücken und Theorie-Deformationen immer wieder schmerzlich bewusst, die durch die Vernachlässigung, Verballhornung und Diffamierung rhetorischer Belange durch kleinere und größere Epochen der Theologiegeschichte entstanden sind. Andererseits bietet das Lexikon eben auch eine zuverlässige Spurensicherung u. a. der rhetorischen Tradition der Theologie. Dadurch werden die im Dialog mit der Rhetorik gewonnenen Einsichten, Verfahren, Kriterien usw. nun doch – teilweise erstmals – in angemessener Weise gewürdigt und der theologischen Arbeit neu zur Verfügung gestellt bzw. ein zweites Mal geschenkt.
Gemessen am Anspruch des Werkes wäre es gleichwohl zu wenig, wenn in diesen Bänden nur an Bekanntes erinnert würde. Die mit der Anlage des Wörterbuches notwendigerweise verbundene systematische Durchforstung der theologischen Begriffswelt auf ihre rhetorischen Facetten, Kontexte und Implikationen führt dazu, dass bestehende Argumentationsmuster ergänzt werden, an Plausibilität gewinnen und in einem neuen Licht erscheinen. Um einen Einblick in das Spektrum der entsprechenden Lemmata zu geben, seien hier zunächst einige der wichtigeren genannt: Ritual, Scholastik, Schriftauslegung, Sermon, Skopus, Sprache, Stil, Stimme, Stoa, Studium, Symbol/Symbolismus, Tabu, Text, Toleranz, Tradition, Traktat, Trostrede, Tugendkatalog, Überredung, Übersetzung, Unterhaltung, Utopie, Verantwortung, Vernunft, Verständlichkeit, Wahrheit, Werk, Zeugnis, Zungenrede.
Die strengen Qualitätskriterien und die einleuchtenden Editionsprinzipien machen auch die Bände 8 und 9 zu ausgesprochen hilfreichen Begleitern. Ähnlich wie in der Besprechung der Bände 6 und 7 möchte ich dies an einigen ausgewählten Lemmata der Kategorie 2 (Sachartikel) und 3 (Forschungsartikel) verdeutlichen:
Da ist zunächst – endlich – das so lange erwartete Lemma »Rhetorik« zu nennen, dessen Erörterung sich über die ersten 137 Spalten des 8. Bandes hinzieht und in ebenso komplexer wie präziser Weise die geistesgeschichtliche Tradition dieses Begriffs nach allen Regeln der Kunst aufleben lässt: Die Autoren nehmen nicht nur auf die Entwicklungen der geistesgeschichtlichen Klassik Bezug, sondern gehen ebenso auf die »Merkmale moderner Ausprägungen« angewandter Rhetorik ein und zeichnen »wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Rhetorik« nach ( A. Kirchner). Im Un­terschied zu nicht wenigen anderen (zumindest thematisch vergleichbaren) Wörterbuchprojekten wird der außereuropäischen Spurensicherung dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet wie der europäischen.
Herausragend sind die umfangreichen Artikelsequenzen von Ch. Maier über die »oralen Kulturen« der Rhetorik: Neben definitorischen Aspekten und Rekonstruktionen der Theorie der Rhetorik sowie zu den Prinzipien ihres Erlernens kommen auch die rhetorische Praxis und die historische Entwicklung der Rhetorik außerhalb Europas in den Blick. Dabei führt der Vf. unter anderem in Fragen der Persuasion, in die Kontexte und Funktionen politischer Rede, in die Grundlagen juristischer und epideiktischer Rede sowie in die Merkmale der Ritualrede und Alltagsrede ein – um nur einige Facetten dieses Forschungsartikels zu benennen. Nach diesem Zugriff auf das Feld der oralen Kulturen versteht es sich von selbst, dass auch die literalen Kulturen in den Blick genommen werden. Dabei werden die entsprechenden rhetorischen Traditionen und Entwicklungen im Alten Orient, Indien, China, Japan und in der arabischen Kultur nachgezeichnet. Aufgrund der konzeptionell beabsichtigten, in dieser Dichte bislang kaum zugänglich gewesenen Vergleichsmöglichkeiten zwischen den großen (und in ihrer Verzweigung gewürdigten) Entwicklungslinien der Rhetorik er­öffnet die Lektüre von Seite zu Seite überraschende Einsichten. Die Bedeutung des in diesem Zusammenhang neu erschlossenen Materials zum Verständnis rhetorischer Funktionen ist nicht nur für die Rhetorik selbst, sondern ebenso für deren »Schwesterdisziplinen« (Sprachwissenschaft, Theologie, Philosophie usw.) kaum zu überschätzen.
Angesichts der Interdisziplinarität, die den gerade genannten Disziplinen eignet – was sich übrigens gerade an dem beachtlichen Repertoire ihrer rhetorischen Argumentationsmuster zeigt –, ist es schade, dass in einigen der Lemmata die entsprechenden rhetorischen Diskurse und Traditionen kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. So paradox es klingt: In ihrer Ausrichtung bzw. Begrenzung auf die Rhetorik als Disziplin im engeren Sinn werden sie dem enzyklopädischen und interdisziplinären Anspruch eines »Historischen Handwörterbuchs der Rhetorik« nur eingeschränkt gerecht. Um zwei Beispiele auszuwählen: Die Ritualforschung – besonders die Funktion von Rede im Kontext des Rituals – gehört seit Jahrzehnten zu den Standards der Theologie, vor allem der Liturgiewissenschaft. Religiöse Zeremonien sind seit Jahrtausenden ein Ort, an dem freie und vorgegebene, prophetische und pries­terliche Rede eine wichtige Rolle spielen, ein Ort, an dem die rhetorischen Rollen von Liturg und Prediger usw. aufeinandertreffen. In hunderten Monographien und Aufsätzen wird die Funktion der Rede im Kontext des Rituals wissenschaftlich erörtert. Wenn ich richtig sehe, hat keiner der einige hundert umfassenden Titel Eingang in die Beiträge gefunden.
Analoges lässt sich zum Forschungsartikel Semiotik sagen. Gemessen an der viele hundert Jahre umfassenden theologischen Tradition der Zeichenlehre, die nicht zuletzt durch den sie markierenden roten Faden der Rhetorik von interdisziplinärem Interesse ist, ist es zu bedauern, dass der Autor von immerhin 95 Spalten in so starkem Maße bei den internen Spezialissima der Semiotik selbst bleibt, statt stärker den rhetorischen Aspekten der Semiotik unter anderem auch in der Theologie und in den anderen Geisteswissenschaften nachzugehen. Wenigstens ein Teil der zahlreichen Fußnoten, in denen der Vf. auf eigene Arbeiten verweist, hätte durch ein paar Hinweise auf Forschungsarbeiten ersetzt werden können, in denen seit Jahrzehnten – mithilfe der Semiotik – unter anderem rhetorisch argumentiert wird. Gleichwohl ist dieser Artikel eine glänzend geschriebene Einführung in die gelegentlich als schwierig empfundene Argumentationsweise der Semiotik.
Gemessen am Gewinn aus der Lektüre des sich allmählich komplettierenden Gesamtwerks handelt es sich bei den eben vorgetragenen Rückfragen nur um eine ausgesprochen periphere Kritik. Für Artikel wie Schriftauslegung, Skopus, Tradition, Wahrheit, Zeugnis und viele andere nimmt man so geringfügige Unvollständigkeiten, die es in derart breit angelegten Projekten immer geben wird, gern in Kauf, zumal unter den erwähnten Lemmata mehr bzw. Vielfältigeres zu finden ist als sonst in theologischen Wörterbüchern. Gerade Theologinnen und Theologen dürfte es unschätzbare Hilfe sein, durch dieses Werk hin und wieder daran erinnert zu werden, in welchem Sinne »Schriftauslegung« auch rhetorischen Prinzipien folgt, dass der Umgang mit »Texten« den Respekt vor den Regeln der Schriftlichkeit des viel zitierten »Wortes Gottes« erfordert oder wie die theologisch abgedroschene Rede vom »Zeugnis« eingebettet ist in eine Geschichte des Zeugenrechts, abhängig von den Regeln glaubwürdiger Rede, relevant als Sprachform der Vergewisserung, der Erkenntnis: »Das Fürwahrhalten auf ein Zeugniß ist weder dem Grade noch der Art nach vom Fürwahrhalten durch eigene Erfahrung unterschieden« (Immanuel Kant, Bd. 9, Sp. 1519).
Man darf gespannt sein, mit welchen vergessenen, neuen oder neu vorgeschlagenen Lemmata der 10. Band aufwarten wird. Den Herausgebern, insbesondere dem Re­daktionsteam (s. o.) ist für zwei weitere Bände zu danken, die das Alphabet beschließen und neue Wege der – nicht nur rhetorischen– Forschung eröffnen.