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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

912-914

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kumlehn, Martina

Titel/Untertitel:

Geöffnete Augen – gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneu­tische Studien zu Rezeption und Didaktik des Johannesevange­liums in der modernen Religionspädagogik. Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 419 S. gr.8° = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 1. Geb. EUR 104,95. ISBN 978-3-11-019516-3.

Rezensent:

Dietrich Zilleßen

Martina Kumlehns Buch, eine Habilitationsschrift an der Theologischen Fakultät der Universität Bonn, bietet mehr Impulse zur Neuorientierung ihres Faches, als die Vfn. versprechen mag (2). Ihre Überlegungen zur Vermittlung von Tradition konzentriert sie auf die »didaktischen Potentiale des Johannesevangeliums« (3). Diese Fokussierung hängt damit zusammen, dass ihr das Johannesevangelium besonders geeignet erscheint, systematisch-theologische Fragestellungen mit Problemen der (didaktischen) Rezeption zu verbinden (4) – unter literaturwissenschaftlicher, erzähltheoretischer und semiotischer Perspektive. Die differenzierte Erörterung dieser Rezeptionsgeschichte beginnt sie mit Friedrich Niebergalls liberaler Pädagogik der »expliziten Verschränkung von alltagsweltlicher Kultur« und biblischer Tradition (380). An »Selbsttätigkeit« sowie »individuelle(r) Aneignung und Umsetzung« (23) orientiert, zielt Niebergalls Didaktik darauf, Lernende mit »biblischen« Erfahrungen zu konfrontieren. Vermittlung von Tradition bringt Ge­meinsames und Unwiederholbares im Ablauf der Zeiten spannungsvoll und weiterführend zusammen (18 f.). Im Gegensatz dazu sieht die Vfn. Marianne Timms Konzept Evangelischer Unterweisung (41–81) nicht vorrangig auf religionspädagogische »Vermittlungsleistungen« (74), sondern auf »theologische Erschließung« (77) ausgerichtet. Schweifender Umgang mit Tradition wird hier ur­sprungsmythisch begrenzt, sachlich-theologische Kontinuität der dialogisch-kommunikativen Auseinandersetzung vorgeordnet.
Der hermeneutisch-bildungsorientierte Ansatz von Hans Stock (82–131) zeigt für die Vfn. die Spannung zwischen problemorientierter Daseinsauslegung (a. a. O.) und dem »produktiven Umgang mit biblischen Texten« (a. a. O.). Im »dynamischen Wechselprozess von Vorerfahrung, Fremderfahrung und Neuerfahrung« dürfen weder »die biblischen noch die Gegenwartserfahrungen je für sich ab­solut gesetzt werden« (122 f.). Gegen allzu spekulative und enthusiastische christologische Deutungen steht bei Stock schließlich »die Orientierung am historischen Jesus als das kritische Kriterium« (125). Darum muss theologisch und religionspädagogisch immer wieder auf den biblischen Text zurückgegangen werden (129). In theologisch-anthropologischer Grundsätzlichkeit nimmt die Vfn. Stocks Schlussfolgerung auf: Es muss gelernt werden, »als neuer Mensch im Geiste Jesu Christi« zu leben, »ohne zu vergessen, dass diese Möglichkeit zu leben eine verdankte ist, die stets um die Grenze des Menschenmöglichen weiß« (131). Insofern sind die »exis­tenzialen und elementaren Denk- und Interpretationsprozesse« auch didaktisch immer »unabgeschlossen« (a. a. O.).
In Ingo Baldermanns Konzept der »Wege biblischen Lernens« (139–148) erkennt die Vfn. eine Didaktik »radikaler Weltzugewandtheit« (135). Unausweichliche Missverständnisse betrachtet Baldermann als Lernchance (134–161). Die dem Text eigene Didaktik führt »durch Verunsicherungen hindurch« »zu neuer Glaubenseinsicht« (158). Dabei bleibt allerdings eine »unauflösliche[n] Spannung«, die einen »scharfen Dualismus von Glauben und Un­glauben« (a. a. O.) unmöglich macht. Die Konsequenz wäre, Missverständnisse als missverständlichen Begriff zu betrachten. So weit ist Baldermann nicht gegangen. Und die Vfn.?
Aus der fünften Studie zieht sie weitere Konsequenzen für die eigene Position. Peter Biehls »didaktische Rezeption der Symbol- und Metapherntheorie Paul Ricœurs« (162–241) hält sie für ebenso grundsätzlich wie seine Kritik an der Ontologisierung der Theologie (164.175; die Vfn. verweist hier auf die kritischen Ausführungen von Michael Meyer-Blanck). Biehls ästhetisch ausgerichtetes Konzept kann »als das Fundament betrachtet werden, von dem aus eine kritische Weiterentwicklung« möglich ist (381). Für Biehl ist die Ereignishaftigkeit der »Daseinserschließung« die eigentliche Grundlage didaktischer Vermittlung (164). Gerade deshalb bleibt die Frage offen, welche Maßstäbe für den kreativen Umgang mit religiösen Traditionen, Texten und Positionen verbindlich ge­macht werden. Biehls konfrontative Gegenüberstellung von Symbol/Mythos und Metapher/Gleichnis erscheint auch der Vfn. etwas fragwürdig (240 f.). Geht es angesichts widersprüchlicher Deutungsvielfalt nicht mehr um kommunikative Verständigung, um Konsens/Dissens als um Definitionen?
Die neue »Aufmerksamkeit« für die ästhetische Gestalt, für die fiktionalen Elemente der Textwelt, für die Textpragmatik bezeichnet die Vfn. als »Perspektivenwechsel« (6). Dadurch könne der »Dis­kurs zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und Religionspädagogik« wieder in Gang kommen (a. a. O.). Strikt wendet sie sich jedoch gegen jede abbildungsdidaktische Beziehung zwischen exegetischen Erkenntnissen und Unterricht (a. a. O.). Tradierung vollzieht sich im johanneischen Verständnis als narrativer Prozess, der inner- und intertextuelle Erfahrungen fortschreibt, modifiziert, korrigiert (248–250). Insofern ist Tradition (mit Bezug auf Ricœur) die »Konstruktion dissonanter Konsonanz« (a. a. O.). Die »Erzähltheorie Paul Ricœurs« (245–295) ist didaktisch besonders bedeutsam, weil sie Erfahrung im Modus Erinnerung/Erwartung als Zeit­erfahrung strukturiert (246). Erzählung gewinnt ihre Kraft »aus der bleibenden Rückbindung an die erfahrbare Praxis«, an Handeln (im weiten Sinn), an Text (253), also aus einer formalen, ästhetischen Beziehung. Das »Als ob« liegt jeder Erkenntnis, jeder Erfahrung und jedem Glauben zugrunde. Erkenntnis muss in die Welt eingreifen, um sie sich anzueignen. Nichts lässt sich absolut setzen. Unvermeidbar durchzieht ein (unsichtbarer bzw. unbewusster, D. Z.) Riss jede Erfahrung (250). »Zeichen« (im johanneischen Sinn) werden als »Sehhilfe« dargeboten (323–329): Jesus Chris­tus »als Licht der Welt, als Augenöffner, als Lebensspender usw.« (330). Im Tradierungsprozess wird Tradition neuen Herausforderungen angepasst. »Brüche und Spannungen« halten diese »Relecture« (297) lebendig. Sie bezeichnet (mit Jean Zumstein) kreative Erinnerungsvorgänge. Der Text sieht »den impliziten Leser« vor (a. a. O.): »implizite Didaktik« (5). Gerade deshalb wird keine bestimmte Lesart autorisiert. Jedes Bekenntnis (»Wir«) schließt »die bekennende johanneische Gemeinde nach rückwärts mit den ersten Zeugen und nach vorwärts mit den Leserinnen und Lesern zusammen« (334). Der Text ist unaufhörlich auslegungsbedürftig, jedes Textverstehen kommunikativ-konflikthaft zu verhandeln und zu gestalten. Das Relecture-Modell entfaltet die »Dynamik narrativer Identität« (342.364, Anm. 513).
Lernen ist ein kommunikativer Prozess individueller Prägung, der nicht einfach festliegenden Intentionen folgt. Die »unterschiedlichen Strategien« des Johannesevangeliums ziehen den Leser in das erzählte Geschehen hinein (a. a. O.). Sie halten an, die eigene Lebensgeschichte mit anderen Augen zu sehen und die biblische Erzählkultur in »vielfältigen Spielarten« zu reinszenieren (381).
Im Rahmen des phänomenologischen Konzepts etabliert die Vfn. (mit Bezug auf den Buchtitel Geöffnete Augen – gedeutete Zeichen) »Religionspädagogik als Wahrnehmungsschule« (349–351), deren Möglichkeiten sie in konkreten Beispielen andeutet (355–358). Dabei geht es um Lebens- und Handlungswelten, nicht nur um kognitive Konstrukte. Die Theologie des Lebens ist mehr als eine »Theologie des Lesens« (365). Warum sollte die Schule des Jo­hannesevangeliums nur der gymnasialen Oberstufe offenstehen?
Narrative Identität ist »auf bereits vorfindliche Deutungsmus­ter, die sie sich aneignet«, verwiesen (368). Von dieser grundlegenden These aus betrachtet ist Identitätsbildung selbst ein hermeneutisches Geschehen (a. a. O.). Deshalb müssen innerhalb der Ju­gendkultur die Vermittlungsprozesse untersucht und erörtert werden. Aber es darf nicht übersehen werden, dass das, was wirkt, sich in seinem tiefsten Grund der Hermeneutik entzieht. »Ereignis« hat keine adäquate Sprache. Das ist im Sinn des Wortes die theologische Crux. Die »Dynamik des metaphorischen und fiktionalen Sehen-als« beinhaltet eine konstitutive Apräsenz. Chris­tus ist »in seiner narrativen Identität sowohl präsent als auch entzogen«, er ist so »und nicht so« (373 f.). Religionspädagogische Di­daktik ist, mit geöffneten Augen gesehen, ein Handeln, das um die tiefe Unverfügbarkeit des Lebens weiß, sich immer wieder neu auf exis­tentielle Texte bezieht und so vorgeht, als könnte es machen, was es macht. Nicht zuletzt sind das Fragen (373), für die die »Kraft der Unterscheidung« (381) nötig ist: Was fällt ins Auge, in geöffnete Augen? Welche Unterscheidungen ergeben sich? Wo ist Nichtsehen wichtiger als Sehen? Wem kommt Trost zu? Was sieht ein Blinder? Die Vfn. schließt ihre Arbeit mit dem mutigen Satz: Religionspädagogik zielt darauf, kritische religiöse Bildung »auch in säkularisierte[n] Bildungsdiskurse[n] einzuspeisen« (381). Sie legt dafür ein Konzept vor, das mich sehr überzeugt hat.